Sonntag, 3. Juli 2011

Zwei Brasilianer in Russland

Zwei Brasilianer in Russland

Mit Dr. Walter Frantz befand ich mich im Frühjahr 1994 auf einer akademischen Reise, die uns über Birmingham nach Stockholm und Umeå in Schweden (der “Heimat” Dª Helenas!), danach - wegen des Streiks des fliegenden Personals der Fluggesellschaft SAS - zunächst nach Helsinki in Finnland und schließlich nach Russland führte. In Stockholm war unsere Erfahrung mit Aeroflot die erste unvergessliche Lektion in Sachen “ehemalige Sowjetunion”: In menschenverachtender Weise nahm Aeroflot wohl unsere Koffer, nicht jedoch uns selbst mit nach Moskau.

Als wir einen Tag später mit Finnair in der russischen Hauptstadt ankamen, gab es zunächst Probleme bei der Passkontrolle: Dr. Walter wurde beiseite gerufen und nicht durch die Sperre gelassen, bis man schließlich kapierte, daß er kein geeignetes Objekt für die korrupte Freibeuterei von Grenzbeamten war. Er wäre lieber ins KZ gegangen, als auch nur einen müden Rubel Schmiergeld zu bezahlen! Dann ging es jedoch weiter in diesem Takt, nämlich bei der Reklamation des Gepäcks. Zunächst wusste niemand von nichts! Ich hatte mir aber von SAS die Kopie eines Telex aushändigen lassen, auf dem die Ankunft unseres Gepäcks in Moskau bestätigt worden war. Also wurden wir missmutig an die Leute im Gepäckraum verwiesen! Wo aber befand sich dieser?? Das Benehmen der Zöllner erinnerte mich an den Dorfsowjet, von dem es bei Simmel -Auch wenn ich lache, muß ich weinen, Knaur 1995, S. 225 heißt: "... Solche wie Kotikow haben die Menschen in unserem Land durch Jahrhunderte gequält und klein gehalten, ob als Dorfsowjet, General, Zar oder Großgrundbesitzer ..." Glücklicherweise haben wir in diesem Stadium der Angelegenheit unsere offiziellen Abholer, die uns nach Kazan geleiten sollten, getroffen: die Germanistin Galina und einen moslemischen Geistlichen, denn in Kazan an der Wolga ist die Mehrheit der Bevölkerung von Haus aus mohammedanisch. Den Geistlichen hatte man extra meinetwegen mitgeschickt; das brachte jedoch nicht viel, weil er nur russisch sprach. Er hat uns aber dann 800 km weit nach Kazan gefahren, ohne unterwegs auch nur 5 Minuten zu schlafen! Zunächst allerdings mußten wir unsere beiden Koffer ausfindig machen, was mit Hilfe einer jungen Beamtin auch gelang, um uns anschließend der Zollabfertigung zu unterziehen. Das war auch eine mittlere Komödie. Mehr als ärgerlich war die Behandlung bei der Deklaration unserer Devisen. Wir fühlten uns in die Zeit der Zaren versetzt, in der es Beamte gab, wie Puschkin oder Gorki sie in ihren Werken zur Genüge beschrieben haben. Das Ergebnis der Devisendeklaration war, daß wir uns in der Folge täglich vor dem Moment fürchteten, an dem wir Russland wieder zu verlassen haben würden! (Was dann allerdings völlig harmlos war, wenn auch nicht ohne Schrecksekunden, arreglos und Elemente, die einer Komödie würdig gewesen wären!) Während wir nach dem russischen Abenteuer wieder „entweichen“ konnten, gab es für unsere lieben Freunde keine Alternative. Sie mußten in einer Gesellschaft ausharren, die während der 70jährigen Herrschaft der Sowjets ui den Lastern der Zarenzeit noch die Mängel der sowjetischen Zeit hinzu bekommen hatte. Man versteht, was ein Kritiker meint, wenn er sagt: „Die Tragik des 20. Jahrhunderts liegt darin, daß es nicht möglich war, die Theorien von Karl Marx zuerst an Mäusen auszuprobieren."

Gegen Mittag schließlich ging es mit dem Dienstwagen der Technischen Universität Kazan auf große Fahrt . Wir sassen auf der 800 km langen Strecke 13 Stunden lang im schon etwas schäbigen Wolga. Da konnten wir viel vom interior Russlands sehen! Wir “Brasilianer” sehnten uns bei einem Zwischenstop in einer Art von Straßendorf vor allem nach einer beleb enden Tasse Kaffe. Schilder mit der Aufschrift Cafe oder RECTORAHT (Restaurant) gab es des öfteren, Kaffee jedoch war dort beileibe nicht zu finden, dagegen jede Menge Coca Cola oder Fanta. Russland ist ein Paradies für Limonadenhersteller geworden, denn das Wasser aus den Hähnen (Kränen) ist nun einmal um Gotteswillen nicht trinkbar! Und Tee scheint auch ziemlich rar zu sein. Bier und Wodka gibt es dafür allerorten! Und wie war es mit dem Essen? Salat, das bedeutet konkret Gurke und Tomate in Scheiben, wie auch Kartoffeln, fehlen weder beim Frühstück noch zu Mittag noch beim Abendessen. Hühnerfleisch, vielleicht auch Sardinen, bilden die proteinhaltigen Beilagen. Viel Speck und Geräuchertes oder Gesottenes, Naturquark, jedoch kaum Käse; Schweinswürste, kaum “edlere” Wurst wie man sie bei uns als sog. “Aufschnitt” bekommt. Fleisch vom Chicken und Schwein besassen alle etwas, Rindfleisch jedoch und Milch waren Mangelware, denn seit der Ära Breschnew, in der die Rinderhaltung und Milchwirtschaft reduziert wurden, fehlen in Russia just diese Produkte. Die Anekdote weiß zu berichten: Auf einem Parteitag wird Breschnew ein Zettel folgenden Inhalts gereicht: "Leonid Iljitsch! Warum gibt es in den Geschäften kein Fleisch?" Breschnew antwortete: "Genossen! Mit Siebenmeilenstiefeln schreiten wir dem Kommunismus entgegen. Mit diesem Tempo kann das Rindvieh nicht Schritt halten!" Der Mangel war offensichtlich, der Ausweg waren tomatka, kartoschka, Eier und Speck; rustikal also, nach unserer Einschätzung ein wenig ärmlich. Vegetarier hätten Mühe, in Russland zu üb erleben...

Ein ganzes Kapitel könnte man über Abtritte in der ehemaligen UdSSR schreiben - ein trauriges Kapitel! Ein anderes Kapitel würde sich auf die immer währenden “Verkehrskontrollen” auf der 800 km langen Fahrstrecke beziehen. In Wirklichkeit handelt es sich - noch nach alter NKWD-Manier - um die penible Überwachung des regionalen und interregionalen Verkehrs. Da schlüpft im Ernstfall keine Maus durch!

Als wir endlich gegen 3 Uhr morgens einigermaßen gemartert und übermüdet unser Quartier in Kazan erreichten, waren wir ehrlich schockiert: Es handelte sich um eine Art “Apartmenthotel” der Universität, doch was waren das für “Apartments” und in welchem Zustand waren die hygienischen Verhältnisse? Das WC in meinem “Apartment” war schlichtweg menschenunwürdig, Die Schüssel schien jahrelang nicht gereinigt worden zu sein, die “Brille” nicht viel öfter; die Rohre waren dick mit Rost überzogen, ganz abgesehen davon, daß es beispielsweise keinerlei Papier für “hinterlistige Zwecke” gab (was durch das permanente Mitführen deutscher Tempo-Taschentücher ausgeglichen werden konnte). Die Wasserspülung lief in allen Spültoiletten, die ich im Laufe der Tage zu sehen bekam, ebenso ununterbrochen wie dies bei den Wasserhähnen in den verschiedenen Universitäten und Instituten, die wir in Kazan und Moskau zu sehen bekamen, der Fall war. Am ersten Tag im “Hotel” der Universität erhielt ich weder einen Schlüssel für mein bescheidenes Zimmer noch für die Eingangstür zum Apartment, in dem in einem anderen Raum vom zweiten Tag an unser Freund Prof. Anatolio aus St. Petersburg - oder sollte ich besser sagen: aus Pratos (denn er ist dort geboren!) - nächtigte. Die Concierge, die ebenfalls auf unserem Flur wohnte, hatte einfach nicht daran gedacht, mir bei der Ankunft einen Schlüssel auszuhändigen. In der Lobby-Loge im Erdgeschoss waltete ein Wächter hinter einem Schalter seines Amtes.

Der erste Tag in Kazan war der Pfingstsonntag. Ehe Dr. Walter und ich in seinem, etwas besser als meines ausgestatteten, Apartment mit unserem “Frühstück” beginnen konnten - er verfügte über etwas Pulverkaffee, ein paar Tassen und einen Samowar - wurden wir ganz nach russischer Sitte vom Rektor der Technischen Universität, unserem Gastgeber, zum Begrüßungsfrühstück mit Salat, Fleisch, Cognac, Wodka und Obst “abgefüttert”. Daran schloss sich eine Autofahrt zum Hafen der Wolga an, wo ein Motorschiff auf uns wartete. Der Einstieg ins Boot erfolgte auf etwas abenteuerliche Weise per „Affenleiter”, wie wir das steil aufgerichtete, mit Querlatten versehene, lange Brett tauften, das sich unter dem Gewicht des jeweils nach oben turnenden Passagiers ziemlich durchbog. Wir schafften aber alle den embarque. Neben dem russischen Rektor und seiner Frau waren die Vizerektoren und einige Professoren, die im Universitätsgefüge wichtige Positionen inne hatten, zugegen, dazu unsere Dolmetscherin Dilya, eine Doktorandin, die leidlich Englisch verstand und mühsam auch einige Sätze auf Germanski herausbrachte. Während der 40 Minuten Fahrt wurden wir erneut zu einem ausgiebigen Begrüßungstrunk und Frühstück eingeladen, diesmal in der Kajüte. Ziel war der Ferienstrand der TU Kazan. Die russische Gastfreundschaft gebot, daß wir uns erneut zu einem Frühstück mit vielen Trinksprüchen trafen. Ein kurzer Spaziergang unter Birken und Kiefern sollte uns Appetit auf das unmittelbar darauf folgende Mittagessen machen! Als wir aufatmend meinten, nun sei es mit Essen und Trinken endgültig zu ende, wurde uns bedeutet, daß man aus technischen Gründen nur eine kleine Pause, einen interval einlegen werde, danach solle es mit Schaschlik, Fisch und Fischsuppe weitergehen. Während das Fleisch über dem Rost duftend zu braten begann, zeigte der Gastgeber auf die Büsche hinter dem Grillplatz und bedeutete uns: “Wenn Ihr mal müßt...” Sein Arm zeichnete einen weiten Bogen in die Luft.

Während der Rückfahrt auf der Wolga gab es dann einen Abschiedstrunk mit einigen Happen aus Fleisch oder Fisch. Mittlerweile waren der Toasts viele gesprochen worden. Und die Russen trinken immer auf “ex”! Ich hatte damit bereits aus Vietnam - wo das sowjetische Brudervolk den Wodka populär gemacht und russische Sitten eingeführt hatte - genügend Erfahrung und ließ mir einmal vollschenken, um dann bei jedem Toast nur zu nippen. Mein Verweis auf die Gesundheit wurde wohl toleriert - übrigens auch beim Gang zur Sauna, dem ich mich entzog - der Beruf allerdings wäre keine Entschuldigung gewesen, denn im Lande des “Wässerchens” pflegen auch die Geistlichen nicht abstinent zu sein! Immerhin begründete ich, während Dr. Walter die russische Sauna genoss oder erlitt, in dem umliegenden Wäldchen mit dem Pedell, der kurz und unwillig in der Sowjetarmee gedient hatte, eine pazifistische Konspiration: „Wojna kaputt, nix soldat!“ Wieder im Hafen von Kazan angekommen, ging es per Omnibusfahrt bis zum Quartier, wo inzwischen Prof. Anatolio eingetroffen war, dessen förmliche Begrüßung - mit viel Wodka und Cognac und wiederum dem typischen russischen Abendessen - nun auf dem Programm stand.

Prof. Anatolio Gach, Romanist aus St. Petersburg (Jhg. 1936) ist, wie Dr. Walter in seinem Trinkspruch verriet, in Pratos/Tucunduva - meiner ersten Gemeinde im Dienst der Riograndenser Synode (Dezember 1952)! - geboren und Anfang 1953 nach Polen zurückgewandert Die polnischen Eltern waren 1934 nach Brasilien ausgewandert. Der begabte Sohn besuchte die Maristenschule in Santa Rosa. In Polen nahm er das akademische Studium auf. Nach seiner späteren Zulassung zur Diplomatenschule in Warschau erhielt er ein Visum für die UdSSR, wohin es die Eltern zog. Anatolio studierte Romanistik (Spanisch) - es gab seinerzeit in der UdSSR noch keine Lusitanistik. Später kam die Anordnung der Regierung, in Leningrad eine Abteilung für Portugiesisch zu eröffnen und Prof. Anatolio wurde zum Chef berufen. Zuletzt war er zwei Jahre in Ijuí für die Regionaluniversität tätig. Von daher kannte ihn Dr. Walter. Nach seiner Pensionierung denkt Anatolio evtl. an eine Rückkehr zur Unijuí und zugleich an den Erwerb eines Hauses mit Hilfe der Unijuí und nach dem Verkauf seines Apartments und einer Datscha in St. Petersburg (wo ihn die kranke Mutter wohl noch eine Weile festhalten wird). Wir sind dann noch miteinander bis Moskau und St. Petersburg gereist.

Am Pfingstmontag fand um 9 Uhr unser “Besuch” bei der TU Kazan statt Im Grunde handelte es sich zunächst um die Besichtigung) der Universität Der Beginn unseres Programms wurde wiederum mit einem offiziellen Frühstück, bestehend aus: Quark, Sahne, Ei, Orangenlimonade, Tee und ein wenig Brot, markiert. Danach ging es durch einige Abteilungen - Computerzentrum (Statistikprogramm), Flugtechnik, wie es in einer nach Tupolew genannten Universität nicht anders zu erwarten ist; Raketensysteme - und dann zu einem Besuch des Universitätsmuseums. Dort fand ich Anregung und Unterlagen zur Abfassung eines Flugblattes für brasilianische Interessenten an der Fabrikation eines kleinen Flugzeugs, das den Pflanzern in Rio Grande do Sul die Arbeit erleichtern könnte, wenn man es beispielsweise zum Besprühen der Felder einsetzen würde. Anschließend an den Rundgang durch die Abteilungen erfolgte unsere offizielle Begrüßung im Universitätskonzil, übrigens mit einer exzellenten Rede von Dr. Walter. Dieser besitzt, wie er selbst zu sagen pflegt, physiognomisch eine gewisse Ähnlichkeit mit Michail Gorbatschow was ihm einige unter den russischen Freunden auch amüsiert bestätigten. Alle nahmen seine Reden seht freundlich auf, machten jedoch, wohin wir auch kamen, keinen Hehl daraus, dass sie Gorbatschow auf alle Fälle zum Teufel wünschten. Simmel gibt in dem bereits erwähnten Roman einen Witz wieder, der vielleicht zu erklären vermag, warum in Russland alles noch immer so im argen liegt, trotz Glasnost und Perestroika: „Da fährt ein Zug, der muß plötzlich bremsen und stehen bleiben, denn vor ihm gibt es auf einmal keine Schwellen für die Gleise mehr. Nun, da haben wir ein Problem ... Wie hätte es Lenin gelöst? ... Lenin hätte gesagt: Wir müssen Bäume fällen und daraus Schwellen für die Gleise bauen ... Stalin hätte befohlen, eine große Menge Menschen umzubringen und sie als Schwellen zu benützen ... Breschnew hätte die Vorhänge an den Fenstern der Waggons schließen und alle Waggons von starken Männern ein wenig schaukeln lassen, damit die Passagiere glauben, der Zug fährt wieder ... Gorbatschow hätte den Reisenden gesagt, sie sollten, zum Teufel, selber etwas tun. Da wir nun aber Glasnost haben, stehen alle auf, stecken die Köpfe aus dem Fenster und brüllen wütend: Warum fährt der Zug nicht weiter? Wer ist schuld daran? ..." ( S. 201)

Nach einem Mittagsimbiss unternahmen wir eine Stadtrundfahrt beim Nachmittagsregen! Es war möglich, ein traditionelles Gotteshaus der Orthodoxen Kirche zu besuchen, die Universität zu sehen, an der einst Lenin studierte; den Kremlin, also die fortaleza der geschichtsträchtigen Stadt und selbstverständlich erklärte uns eine eigens angeheuerte geschichtsbeflissene Ärztin in Kürze die Geschichte der Stadt. Das Abendessen zusammen mit den wichtigsten Persönlichkeiten des Lehrkörpers der TU fand wiederum in Dr. Walters Apartment statt: 1. Teil frios - Sauna ! - 2. Teil janta (ich hab’s glücklicherweise verschlafen).

Danach, gegen 22.30 Uhr, erfolgte ein Besuch bei einem aus Ijuí in Urlaub angereisten tatarischen Professors (Physik). Als wir vor seinem Wohnblock vorfuhren, war gerade das Licht ausgegangen, so daß wir die acht Stockwerke im Dunkeln erklommen, die Familienangehörigen in totaler Finsternis begrüßten und kulinarische Aufmerksamkeiten im Dunkeln probierten. Ich mußte das Versprechen abgeben, den Professor anlässlich unseres für den Herbst geplanten Aufenthalts in Ijuí zu besuchen.

Am Dienstag nach Pfingsten, dem 6.6. standen die Verträge zwischen Russland und Brasilien auf dem Programm. Im Laufe des Vormittags wurden zwei Verträge im Rektorat abgeschlossen, die ich als testemunha mitunterzeichnete. Dann ging es mit Dr. Walter zur Landwirtschaftlichen Universität, wo dieser wieder eine gute Rede hielt. Auf die Frage eines alten Marxisten während der Diskussion legte Dr. Walter ein “offenes Bekenntnis” zur Leistungsgesellschaft ohne jegliche staatliche Intervention oder tuition ab, sprach sich jedoch für staatliche Maßnahmen zur Verhinderung der Ausbeutung von Mitarbeitern aus. “Damit bin ich Marx und Lenin vielleicht am nächsten”, so Dr. Walter.

Mir fiel bei der Frage des russischen Freundes die recht boshafte Bemerkung ein: „Was ist der Unterschied zwischen Kapitalismus und Kommunismus?“ - „Im Kapitalismus wird der Mensch vom Menschen ausgebeutet. Im Kommunismus ist es genau umgekehrt!“

Das Mittagessen war bei Prof. Talgat K. Sirazetdinov, der sich freute, einen Pastor im Hause zu haben: Zwei Pastoren habe er kennen gelernt, sagte er in einer Tischrede: in Passo Fundo und nun meine Person. Beide hätten auf ihn Eindruck gemacht. Er fügte noch hinzu: “Ich beginne mich für Religion zu interessieren; ich habe leider zu wenig Zeit dazu.”

In der Nacht fuhren wir per Schlafwagen nach Moskau, wo wir ein besonderes Erlebnis in der Technischen Universität hatten. Zunächst einmal jedoch: An der Eingangsfassade waren ein paar Figuren in Stein zu bewundern. Respektlos bemerkte Freund Anatolio: ”Das sind die einzigen, die in diesem Hause nicht besoffen sind.” Wir hatten Gelegenheit, den Grund für diese Bemerkung zu erfahren: Eines Festes wegen waren der Rektor und die höheren Chargen des corpus docendi abwesend. Der Vizerektor war verdonnert worden, zu bleiben und uns zu empfangen. Außerdem wollte er am Abend zu einer Konferenz nach Bulgarien abreisen. Nur sein alter Lehrer und Mitglied der Akademie der Wissenschaften etc. war geblieben, um ihm Gesellschaft zu leisten. Da es ein Festtag der Institution und noch dazu ein einsamer und langer Tag war, hatte der Vizerektor bereits ziemlich viel “getankt”, als wir zunächst unser Gepäck dort abstellten. Darauf setzten wir uns auf Anordnung unserer Betreuerin Dilya zuerst einmal zu einer kurzen Besichtigung des Kremls und anderer Moskauer Sehenswürdigkeiten ab. Als wir dann zum offiziellen Gesprächstermin in das Büro unseres Vizerektors zurück kamen, gab es nichts mehr zu besprechen, denn der Mann war stockhagelbesoffen, wie man es von literarischen Figuren, wie Puschkin oder Gorki sie einst geschaffen haben, kannte! Und noch viel, viel mehr! Einfach unglaublich, surrealistisch. total unmöglich! Würde man in einem Bühnenstück Ähnliches darstellen wollen, würden alle im Publikum sagen: So etwas gibt es nicht!! Traurig nur, daß eine Handvoll Studenten, die sich noch dazu im Examensstress befanden, dies alles mit ansehen mußten! In einem bestimmten Moment griff unser Gastgeber nach luxuriösen, farbigen Mappen in einem Wandschrank, nahm zwei in die eine und zwei in die andere Hand und erklärte mir, der ich als intermediário fungierte, wir würden es jetzt machen wie die Kinder. Dann trat er, die Hände hinter seinem Rücken versteckt, in den Raum und fragte: “Welche Hand wollen Sie?” Ich verwies auf Dr. Walter: “The Rector first!” Dann begann der Mummenschanz! Schließlich verteilte der Vizerektor an uns noch bis vor kurzem aus Gründen der Geheimhaltung in einem “Rüstungslaboratorium” streng geheime Drucksachen, nicht ohne zu bemerken, daß er in seiner Stellung ranggleich mit einem Minister sei. Dr. Walter raunte mir in einem günstigen Moment die Bemerkung zu: ”Wer weiß, ob sich in den Mappen nicht wichtige Dokumente befinden! Wir nehmen das Zeug nicht mit, sonst werden wir bei der Ausreise am Flughafen noch als Spione verhaftet!” In der Tat ließ Dr. Walter die Tüte mit den kompromittierenden Papieren zum Schluß im Büro des Gastgebers vorsätzlich zurück, doch da die Studenten dazu verdonnert waren, uns am Tage unserer Abreise zum Flughafen zu geleiten, händigten diese uns vor dem Abflug das “heiße” Päckchen wieder aus! Und siehe da, als ich meinen Anteil an der chause zuhause auspackte, fand ich tatsächlich russische Briefschaften und Notizen in einer der Mappen! Während Dilya, unsere Betreuerin aus Kazan, den Vizerektor aus dem Russischen ins Englische und ich dann aus dem Englischen ins Portugiesische übersetzte, entschuldigte sich Dilya einmal bei mir, indem sie sagte: ”I do not know why he suddenly speaks about Winston Churchill.” Ich gab es so an Dr. Walter weiter und übersetzte das Zitat: Churchill habe einmal gesagt, der Balkan sei ein strategisch entscheidendes Gebiet. Die wurde uns offenbar gesagt, weil sich der Vizerektor unmittelbar vor Antritt einer Reise nach Bulgarien befand. Zu den absoluten Merkwürdigkeiten des Termins in jener Moskauer Universität gehörte auch die unzeitgemäße “Ordensverleihung”, die wir die zweifelhafte Ehre und das ebenso zweifelhafte Vergnügen hatten: Nachdem unser Gastgeber uns darauf hingewiesen hatte, daß wir uns in einem Raume befänden, in dem früher der Komsomol zu tagen pflegte, kramte er erneut in seinem Wandschrank und brachte drei kleine Pappschächtelchen hervor, denen er sowjetische Auszeichnungen entnahm: Diese Auszeichnung erhielten nur Absolventen der Technischen Hochschule nach bestandenem Examen. Früher, als die Universität noch eine Art von Planungsbüro für die Rüstungsindustrie gewesen sei und man militärische Traditionen gepflegt habe, hätten die Auszuzeichnenden den Orden, der am Boden eines “stakan”, eines Schnapsgläschens versenkt worden sei, nicht nur den Wodka auf einen Zug austrinken, sondern dann den Orden mit den Zähnen herausnehmen müssen. Bei uns Zivilisten werde die Prozedur etwas erleichtert: Wir hätten nur den Wodka auf einen Zug auszutrinken, um dann den ehrenvoll verliehenen und rite erworbenen Orden an uns zu nehmen. Zum Abschied küsste mir der Hauptdarsteller der Komödie, an der wir als Mitspieler Anteil hatten, ausgiebig die Hand. Dies pflege man in Russland zu tun, um einem Geistlichen Respekt zu erweisen. So bin ich wohl der einzige Geistliche geworden, der ein paar Jahre nach der Auflösung der Sowjetunion ohne Abschlussprüfung an der Technischen Universität innerhalb einer Viertelstunde von ein uns derselben Person einen Orden des Komsomol und dazu auch einen Handkuss erhielt. Das war schon ein merkwürdiger Nachmittag!

Abends erfolgte die Weiterfahrt mit dem Zug nach St. Petersburg .Dr. Walter und ich waren gemeinsam in einem Abteil untergebracht. In St. Petersburg angekommen, fuhren wir in einem kleinen Auto zu einer Gästewohnung der Universität, wo Dilya ein Zimmer allein, Walter und ich ein anderes Zimmer zusammen bewohnten. Dort herrschten saubere hygienische Verhältnisse, jedoch litten wir bei der Hitze, die uns das Wetter während unseres gesamten Aufenthalts in Russland beschert hatte, ständig unter dem Mangel an trinkbarer Flüssigkeit (da das Wasser aus der Leitung nicht getrunken werden darf).

Als erster Punkt auf dem Programm stand ein Besuch im Sprachenzentrum und bei den Romanisten der Universität von St. Petersburg. Walter hielt eine längere Ansprache. Herrlich war, daß wir mit allen unseren Freunden aus der Abteilung für Romanistik problemlos kommunizieren konnten! Alle sprechen Portugiesisch (de Portugal!) bzw., eine Professorin für Spanisch, español !

Dilya betreute uns, auch hinsichtlich der Bestellung der Mahlzeiten im Universitätscafé. Dabei war sie über unseren abweichenden Ess- und Trinkbedürfnisse nicht gerade glücklich. Immerhin spielte sich sogleich die Praxis ein, daß wir am Ende einer jeden Mahlzeit (auch des Frühstücks) “bestellten”, was wir zur folgenden Mahlzeit genießen wollten. Dabei handelte es sich auf unserer Seite lediglich um eine Reduzierung oder Annullierung üblicher Gerichte oder Speisefolgen. Das russische Essen bestand uns einfach aus zu viel Fleisch und Fett. Andererseits boten die Mahlzeiten zu wenig Flüssiges, zumal wir ja dem „Wässerchen“ nicht in gebührender Weise zusprachen.

Bei einer sehr interessanten Stadtrundfahrt mit einem Romanistikstudenten konnten wir auch den berühmten Kreuzer Aurora besuchen und ein paar Erinnerungsfotos dort schießen.

Am Freitag hatte man für uns den Besuch der Eremitage (Winterpalast) eingeplant. Unter der fast professionellen Führung der liebenswürdigen Professora Natascha bekamen wir einen Eindruck nicht allein von den Kunstschätzen, die dort auf einer Wegstrecke von 3000 Metern konzentriert zu besichtigen sind, sondern insgesamt von der russischen Kultur und der Geschichte dieses zähen und tapferen Volkes. Wir stellten überdies fest, daß wir uns in St. Petersburg “mitten im europäischen Haus” befanden und empfanden große Freude und Genugtuung darüber, daß wir nun nach langer Trennung voneinander wieder wie Geschwister miteinander kommunizieren durften! Mit einem Essen als Gäste der Dozentenschaft der Romanistik endete der denkwürdige Besuch in der geschichtsträchtigen und traditionsreichen osteuropäischen Stadt St. Petersburg.

Auf der nächtlichen Fahrt nach Moskau waren Walter und ich wieder in einem Abteil, Dilya teilte ihr Abteil mit einem fremden Mann und war nicht sehr erbaut darüber.

Am Samstag sagte Dilya nach Ankunft in Moskau zu uns: “Bisher waren Sie Gäste, jetzt machen Sie alles, was die Einwohner Moskaus tun müssen.” So erhielten wir einen Einblick in den “Kampf ums Dasein”, angefangen bei der Metro, der Straßenbahn, den Problemen, die auftreten, wenn es um die “menschliche Bedürfnisse” bis hin zum Duschen im “Wohnheim und die Schwierigkeiten des “shopping” in Moskau (zur Verzweiflung meines Reisegenossen stellte das “shopping” zumindest ein mittleres Problem dar!). Wir erlebten ein Mittagessen a la “Mundo de plástico”, die lange Autofahrt zum Flughafen und die Schwierigkeit dortselbst mit dem Gepäck einzuchecken. Wir erfreuten uns aber auch der Freiheit. In der Lanchonette im Obergeschoss zu bestellen, wonach uns zumute war, wenn auch für teueres Geld. Wir verfügten jedoch über eine beträchtliche Summe russischer Rubel, mit der uns die TU-Kazan freundlicherweise ausgestattet hatte, die auszugeben jedoch absolut keine Gelegenheit bestanden hatte und die aus dem Lande auszuführen streng verboten war. Als wir sie verschenken wollten, ernteten wir Protest und Entrüstung. Schließlich gelang es Dr. Walter, den Bestand an Rubeln einer russischen Dozentin überreichen zu lassen, die dafür einige Besorgungen würde erledigen können, ehe sie in einigen Wochen nach Brasilien zurückkehrt. Übrigens verlief die Kontrolle bei der Ausreise problemlos. Zwar hatten wir keine aktuelle Devisenerklärung zur Hand. Doch rettete uns unser Vorschlag, doch einfach das Datum des Doppels der alten, bei der Einreise abgegebenen, Devisenerklärung ändern zu dürfen. Diese, der brasilianischen Kultur des jeitinho entsprungene, Lösung des akuten Problems wurde uns genehmigt. Kaum war das Datum der Erklärung geändert und von der Beamtin abgestempelt, wurde es von dieser auch schon uninteressiert auf den Boden des Flughafens geworfen - ein sehr vernünftiges “Ablageverfahren”! Ein schweizerisch-russisches Speiseeis vor dem Gate zu unserem Flug versüßte uns dem Abschied. Bald ging es mit LH zurück nach Frankfurt! Dort habe ich Dr. Walter noch zum Varig-Schalter begleitet und ihn nach Brasilien verabschiedet, dann ging es für mich ab nach Nürnberg, wo mich meine Frau und unser Gast Oskar Lützow erwarteten.

Até aqui o relatório sobre uma viagem à Rússia!. Es ist eine rein persönliche Schilderung, eine Hilfe für die Rückschau.

Keine Kommentare: