Donnerstag, 24. Juni 2010

Die „vorrevolutionäre" Situation bis zum Militärputsch 1964

Heinz F. Dressel

Wer die 50er und 60er Jahre in Brasilien aktiv miterlebt hat, wird sich noch lebendig an Francisco Julião und an die Landlosenbewegung erinnern. Gregório Bezerra hat einmal sehr eindrücklich das mühevolle Dasein der Landarbeiter des Nordostens beschrieben: In den frühen Morgenstunden begegnet man auf den Straßen der Zuckerregion tagtäglich Lkws, deren Ladeflächen vollgestopft sind mit Männern, Frauen und Kindern, als handle es sich um Viehtransporte. Bei all diesen Menschen, die auf den Fahrzeugen zusammengepfercht sind, handelt es sich um perspektivlose Landarbeiter, die zum Einbringen der Ernte in die Zuckerrohrfelder transportiert werden. Wenn denn der slogan no future irgendwo auf dem Globus wirklich angebracht war, so hier, bei diesen ausgebeuteten Kreaturen!

Im Nordosten, wo die Konzentration des Landbesitzes besonders markant und die Proletarisierung der Landarbeiter am weitesten fortgeschritten war, bildeten im Januar 1955 eine Anzahl von Kleinpächtern, Landarbeitern, Tagelöhnern, nur für den Eigenbedarf produzierenden „Subsistenz-Landwirten", Bauernsöhnen ohne Eigentum, landwirtschaftlichen Leiharbeitern etc. in Galiléia, Pernambuco, eine Berufsgenossenschaft, aus der sich bald die Ligas Camponesas entwickeln sollten, als der Advokat und spätere sozialistische Abgeordnete Francisco Julião das Steuer in die Hand genommen hatte.

Ähnliche Ligas gab es bereits seit der Nachkriegszeit. Zumeist hatte man versucht, die Attraktivität und Popularität der örtlichen Ligas durch die Beifügung eines Heiligennamens zu fördern: Liga Camponesa Santa Madalena lautete dann etwa der Name. Ursprünglich sollen die Ligas so etwas wie »Begräbnisvereine« gewesen sein, ähnlich den „Wohltätigkeits-Genossenschaften auf Gegenseitigkeit", die bei Eintritt eines Todesfalles in der Familie mittels einer finanziellen Beihilfe, in erster Linie zum Erwerb eines Sarges und einer Grabstätte auf dem Friedhof, eine würdige Bestattung garantierten. Im Laufe der Zeit hatten sich die Ziele der Genossenschaften geändert, und es ging nicht mehr nur um ein paar Meter Land zur Bestattung der Toten, sondern um etwas Land für die hungrigen Lebenden. Julião hat diese »famose Geschichte« später als eine Dramatisierung der Landproblematik interpretiert, auf dem Hintergrund etwa der seinerzeit weltweit berühmten „Geographie des Hungers" von Josué de Castro, von dem das berühmte Bild vom Zyklus der Krabben stammt: „Die Armen, die in den mocambos hausen, leben von Krabben und die Krabben leben von menschlichen Abfällen. Alles, was inmitten dieses schwarzen Flußschlammes Mensch ist, war und ist und wird Krabbe sein. Die Menschen in den mocambos riechen nach Krabbe, sie denken wie Krabben, sie schreiten rückwärts wie Krabben." (Ciclo do Caranguejo) Vielleicht hat zur Dramatisierung auch das Werk des
Ernährungswissenschaftlers Nelson Chaves beigetragen, der in einem Gespräch, das wir 1972 miteinander führten, von einer „neuen Spezies von Menschenaffen" im Nordosten, die infolge des eklatanten Mangels an Protein entstehe, gesprochen hatte. Für ihn stand es fest, dass der Grund dafür in der immer stärkeren Industrialisierung des Zuckers zu suchen war. Die Zuckerrohrplantagen breiten sich aus, argumentierte er, und ersticken alle anderen Kulturen. Dies wirkt sich ganz enorm auch auf die Ernährung der Menschen aus, die sich auf Dörrfleisch, Maniokmehl, Bohnen und Süßkartoffeln und auch auf den Zucker gründet. Die moderne Monokultur des Zuckerrohrs bringt es mit sich, dass die Abwässer aus den Zuckermühlen die ohnehin spärlichen Gewässer der Region so weitgehend verunreinigen, dass Fische und Schalentiere eingehen. Auf diese Weise ist der Bevölkerung eine wichtige Quelle eiweißreicher tierischer Nahrung verlorengegangen. Es konnte überhaupt nicht ausbleiben, dass die darbende Landbevölkerung im brasilianischen „Hungerdreieck« sich eines Tages gemeinsam gegen die herrschenden Lebensbedingungen auflehnen würde, um wenigstens minimale Rechte zu erstreiten. Gilberto Freyre sagte damals: „Es gibt derzeit in Lateinamerika keine kritischere Region als den Nordosten Brasiliens." Die Menschen dachten weithin wie jene Mutter von acht Kindern, die seit 15 Jahren in der Favela wohnte: „Es ist einfach nicht mehr auszuhalten. Ich werde anfangen zu stehlen. Ich bin ganz versessen darauf, dass der Kommunismus kommt!" Es war nicht von ungefähr, dass der Putschversuch der Kommunisten 1935 gerade in Recife begonnen hatte!

Der eigentliche Fokus der ständig wachsenden sozialen Unruhen zu Beginn der 60er Jahre lag dementsprechend im Nordosten. Ein Beispiel der nahezu absoluten, semi-feudalen Macht im sertão erwähnt Paulo Cavalcanti in seiner politischen Chronik Nos Tempos de Prestes: Da hatte, wenige Wochen vor dem Amtsantritt des Gouverneurs Miguel Arraes, der Großgrundbesitzer José Lopes de Siqueira Santos fünf Landarbeiter ermordet, die ins Büro seiner Zuckermühle gekommen waren, um wegen rückständiger Lohnauszahlung zu reklamieren.

Die Landarbeiter waren seinerzeit völlig rechtlos, im Unterschied zu den Industriearbeitern in den urbanen Zentren, zu deren Schutz Getúlio Vargas entsprechende Gesetze erlassen hatte, über deren Einhaltung das „Allgemeine Kommando der Arbeiterschaft" (CGT) eifersüchtig wachte. Miguel Arraes, der endlich mit einem Zustand brechen wollte, der unter dem Gesichtspunkt sozialer Gerechtigkeit nicht länger zu vertreten war, gelang es, zwischen den antagonistischen Parteien - hier die latifundistas, dort die camponeses - einen Akkord zustande zu bringen und auf diese Weise den sozialen Frieden in Pernambuco zu erhalten.

Im November 1961 tagte in Belo Horizonte der 1. Nationale Kongress der Landarbeiter mit Francisco Julião, der sich mit allen Mitteln für die Interessen der verelendeten Landarbeiter einsetzte. Er hatte eine Delegation von 200 Repräsentanten der Ligas Camponesas mitgebracht. Auf der Tagesordnung stand die Forderung nach einer unverzüglichen Enteignung aller Latifundien einer Größe von mehr als 500 Hektar. Eine besondere Provokation bedeutete das Abspielen eines Tonbandes mit einem Grußwort Fidel Castros an die ca. 5000 Versammelten, in dem der Beifall Kubas zu einer Agrarreform in Brasilien zum Ausdruck kam. Zu den Instrumenten, derer man zur Herbeiführung der geforderten Agrarreform bedürfe, zählte in den Augen der Anführer der Ligas auch die Entsendung von „Landarbeiterführern" nach Kuba zum 1. Mai 1961.

Von Jacob Gorender, Publizist und Journalist und einst Mitbegründer des Partido Comunista Brasileiro Revolucionário (PCBR), wissen wir, dass es zu Zeiten der Regierung Jânios (31.1.1961 - 26.8.1961) einen intensiven Polittourismus der brasilianischen Ultralinken nach Kuba gegeben hatte. So befand sich der Vorsitzende des PCB, Jover Telles, vom 30.4. bis zum 23.5.1961 in Havanna. In dem Bericht über seine dortigen Aktivitäten erwähnte er die Frage nach einem Curso político-militar in Kuba für eine Reihe von Genossen. Zu jener Zeit hielt sich auch Francisco Julião, der Leader der Ligas Camponesas, in Havanna auf und suchte - laut Telles - kubanische Unterstützung des bewaffneten Kampfes. Dies entsprach übrigens nicht der Position Telles‘, der empfahl, die Angelegenheit mit Carlos Prestes (dem Generalsekretär des PCB) zu diskutieren. Auch der Rechtsanwalt Clodomir dos Santos Morais, einer der frühen Verfechter einer sozialistischen guerrilha in Brasilien, befand sich im Mai 1961 in Kuba. Er kommandierte eine Gruppe von Anführern der Ligas Camponesas und betrieb erfolglos den Einstieg des PCB in den bewaffneten Kampf. Die Partei schloss ihn später aus. In einem Brief vom 16.9.96 wies der frühere Justiz- und Erziehungsminister Jarbas Gonçalves Passarinho den Vf. auf das 1973 erschienene und in Kuba prämierte Buch A esquerda armada no Brasil hin, das auf der Grundlage von Aussagen kommunistischer guerrilheiros e terroristas basiert und in dem die Tatsache, dass terroristische Aktionen bereits lange Zeit vor Beginn der staatlichen Repression stattgefunden hatten, bestätigt werde. Zu diesem Komplex gibt es inzwischen bessere Informationen als vor 20 Jahren, besonders, was die frühe Landguerrilha im Amazonasgebiet betrifft.
Gorender geht in seinem „Klassiker" über die Geschichte der marxistischen Untergrundbewegung in Brasilien - Combate nas Trevas - davon aus, dass aller Wahrscheinlichkeit nach die Ideen aus Frantz Fanons letztem Buch - Die Verdammten dieser Erde, das 1961 erschienen war, die Auffassung gerade jener Revolutionäre in besonderer Weise stützte, in deren Augen der bewaffnete Kampf der Bauern der entscheidende Motor einer generellen Revolution war. Von nun an war eine Radikalisierung der Ligas zu beobachten, zumindest, was ihre Parolen betraf. So hatte Julião damit begonnen, die längst überfällige Agrarreform „per Gesetz oder per Gewalt, mit Blumen oder mit Blut", herbeizuzwingen. Damit hatte er nolens volens seinen bis dahin vertretenen Standpunkt, der sich am Gesetz und an der Verfassung orientierte, verlassen. Im April 1962 begann in Ouro Preto die vom kubanischen focismo inspirierte „Revolutionsbewegung Tiradentes" (MRT) mit der Vorbereitung des bewaffneten Kampfes und Brizola betrieb die Organisation der „berühmten" Grupos dose Onze, womit er - was er nach seiner Rückkehr aus dem Exil noch einmal bestätigte - militante „Zellen" zur Durchführung bewaffneter Aktionen im Sinn hatte. Damit knüpfte er bewusst an die 1956 von Fidel Castro angeführte Invasion in Kuba an, bei der nach einem Angriff der Luftstreitkräfte Batistas von den 84 Revolutionären, die sich auf der legendären Granma befunden hatten, nur elf, darunter Fidel und Raúl Castro, überlebten. Fidel soll damals zu seinem Bruder gesagt haben: „Zwölf - dann sind die Tage des Diktators gezählt!" Brizola griff in einem Memorandum vom 29. November 1963 auf das Beispiel jener elf kubanischen Revolutionäre zurück und proklamierte die Bildung von „Commandos Nacionalistas" bzw. von „Grupos dos Onze Companheiros" - Elfergruppen - mit dem dreifachen Ziel: Verteidigung der demokratischen Errungenschaften des brasilianischen Volkes, unverzügliche Durchsetzung der notwendigen „Reformas de Base" und nationale Befreiung (libertação nacional). Dabei stellte Brizola sich faktisch bewaffnete Gruppen vor. Der Mythus Fidel Castro lag in der Luft! Im Nordosten des Landes bemühte sich Sargento Gregório - Bezerra -, der sich mit ganzer Leidenschaft der Organisation von Landarbeitergewerkschaften in Pernambuco gewidmet hatte, inzwischen um die Bewaffnung seiner Mannen. Sein diesbezüglicher Appell an den Gouverneur blieb jedoch ohne Antwort. Die Zukunft hatte bereits begonnen: Der Putsch war unterwegs. Man wusste nicht, ob er von links oder von rechts kommen würde, in Gestalt eines Staatsstreichs der Kommunisten oder als Rebellion der Armee.

Wie heutzutage der Führer des PT Lula z.B. auf seiner Caravana da Fome - Karawane des Hungers - die mystische Religiosität der einfachen Landbewohner im Nordosten einkalkuliert, wenn er erklärt, das Rot seiner Parteifahne sei »das Blut Jesu Christi am Kreuz« und das Kreuz des PT »der Wegweiser zur Geburt Jesu«, so hatte schon lange vor ihm der Volkstribun Leonel Brizola in demagogischer Weise die neue Aufgeschlossenheit der Katholischen Kirche sozialen Problemen gegenüber - es war die Zeit der Päpstlichen Enzyklika Mater et Magistra (15.5.61) - politisch genutzt und den Armen eingebläut: „Auch Christus war arm!" Brizola trat gern mit dem Ex-Padre Alípio de Freitas auf, der zum Partido Revolucionário dos Trabalhadores (PRT) gehörte und vor allen Dingen unter den Landarbeitern in Bahia, agitierte. Er hatte eine Weile in Kuba zugebracht und betätigte sich danach heimlich in der brasilianischen Ação Popular (AP). „Padre" Alípio geriet zu Beginn der Diktatur in Gefangenschaft und bezeugte später, dass auch in „den Kellern der Kasernen" Folterungen stattgefunden hätten, und dass Generals Antônio Bandeira, der Kommandeur des III. Exército, persönlich daran teilgenommen habe. Der Anführer der Aliança Libertadora Nacional (ALN), Joaquim Ferreira (o Toledo) ebenso wie der Leader des PC do B ,Carlos Danieli, seien, anders als offiziell verlautete, bei der Folter und nicht auf der Flucht ums Leben gekommen. (ZH 6.4.98)
Übrigens verschmähte es auch der Sozialist Francisco Julião nicht, auf die christlichen Gleichnisse zurückzugreifen, um seinen am Rande des Elends lebenden Brüdern auf dem sertão das tägliche Brot zu erkämpfen.
Die damals immer häufiger erklingenden radikalen Töne durften so ernst nicht genommen werden. Es ist so gut wie erwiesen, dass die Parteistrategen in der UdSSR zu Zeiten von João Goulart nicht an einem kommunistischen Aufstand interessiert waren, vielmehr strebte der „partidão" (PCB) einen friedlichen Übergang an und setzte auf eine Allianz mit der nationalen Bourgeoisie, um gemeinsam mit dieser eine nationalistisch-protektionistische Wirtschaftspolitik durchzusetzen. Auch die Gruppe um Fidel Castro war seinerzeit nicht an bewaffneten Aktionen in Brasilien gelegen, vielmehr war beiden Sektoren daran gelegen, die Regierung Goulart zu stabilisieren, indem sie deren Politik der „Reformas de Base" unterstützten.. Aus diesem Interesse heraus mussten sie zum damaligen Zeitpunkt jeden Radikalismus, sei es der von Julião oder der von Brizola, verurteilen. Entsprechende Zeugnisse von kommunistischer Seite, z. B. von Paulo Cavalcanti in Recife, belegen dies zur Genüge.
Nach dem Rücktritt des Chaoten Jânio Quadros arbeitete die Regierung Goulart (8.9.1961 - 31.3.1964) unter Federführung des Planungsministers Celso Furtado ihren Dreijahresplan aus, der - neben tiefgreifenden Reformen im Gesundheitswesen, auf dem Gebiet der Lebensmittelversorgung sowie im Bildungs- und Transportwesen - insgesamt auf wichtige, längst fällige und unaufschiebbare Strukturreformen zielte. Angesichts der Rechtslage war es klar, dass die notwendigen Reformen nicht ohne eine Änderung der Verfassung verwirklicht werden konnten. Infolge der Mehrheitsverhältnisse im Parlament wurde 1963 die Anwendung von Notstandsgesetzen nicht zugelassen. Bei diesen Gesetzen handelte es sich konkret um den in Extremfällen vorgesehenen »Ausnahmezustand«, der den Präsidenten u.a. dazu ermächtigt hätte, in einzelnen Staaten zu intervenieren und per Dekret bestimmte Reformen vorzunehmen - ähnlich, wie es später die Militärs mit ihren „Institutionellen Akten", speziellen „Notstandsgesetzen", wiederholt praktiziert haben. Darcy Ribeiro, der „Chef des Kanzleramtes", hatte eigens ein Gesetzesprojekt vorbereitet, das zwischen dem Gebrauch und Besitz von Ländereien unterschied: Alle Ländereien, die innerhalb eines bestimmten Zeitraums von ihren Eigentümern nicht adäquat benutzt worden waren, sollten von den traditionell darauf wohnenden „Häuslern" genutzt werden dürfen. Die Landbesitzer protestierten vehement gegen das geplante Gesetz. Ihr Sprecher, der Abgeordnete Armando Falcão, brachte den Protest auf den Nenner: „Haben Sie den Abgeordneten Ihrer Region dazu gewählt, damit man beschließt, Ihnen Ihr Land wegzunehmen? Verteidigen Sie Ihre Freiheit und verteidigen Sie Ihr Land!"

Die „Bauernligas" waren bereits in aller Munde, da kamen die „Gruppen der Elf" dazu, deren Organisation Leonel Brizola vor allem in seiner bereits zur Institution gewordenen „Ansprache am Freitag" über Radio Mayrink Veiga verkündete. Diese Comandos Nacionalistas, als welche sie auch bezeichnet wurden - (laut Brizola sollte es sich landesweit um eine Avantgarde der Revolution von 300.000 Mannen handeln) - sollte ohne Verzug die „Volksrevolution" in Brasilien entfachen. In einer Atmosphäre der „steigenden Erwartungen" forderten die Ultras immer ungeduldiger »grundlegende Reformen«, die Landarbeiter eine radikale Landreform, die Arbeiterschaft die Stadtreform, die Beamten eine Bankreform, die Angestellten eine Reform der Arbeitszeit, die Studenten eine Universitätsreform. Julião prophezeite: „Der Wille des Volkes wird den Sieg davon tragen, mit oder ohne Parlament!" Brizola forderte lauthals die Auflösung des Parlaments: „Dieses Parlament wird keine einzige Reform beschließen!" Goulart müsse handeln, drängte er, wie Getúlio Vargas es 1937 angesichts der Gefahr des Integralismus getan habe: „Wenn wir nicht putschen, werden die andern putschen!" Der Volkstribun aus dem riograndenser Städtchen Carazinho wollte unter allen Umständen den Umsturz und den Bürgerkrieg.

Den Plänen seines Schwagers João Goulart entsprach solcher Radikalismus nicht. Zwar hielt auch er radikale Reformen für unerlässlich, er hoffte sie jedoch mit friedlichen Mitteln herbeiführen zu können: die Agrarreform, die dringend nötige Reform des Bildungswesens, die Reform des Wahlrechts, um endlich auch der Masse der Analphabeten die Möglichkeit zu geben, ihr Schicksal mitzubestimmen, die Reform des Bankwesens, um nur die wichtigsten Projekte der Regierung anzusprechen.

Für Goulart stand fest, dass es ohne eine „Reformulierung" und die „Liquidierung" überkommener, morscher Strukturen, nicht gelingen konnte, den sozialen Frieden in einem Volk herzustellen, das ökonomisch weithin noch unter Bedingungen lebte, wie sie in der alten kolonialen und monarchisch geprägten Gesellschaft gang und gäbe gewesen waren, ohne dass sich durch die Abschaffung der Sklaverei und, ein Jahr danach, auch der Monarchie, tatsächlich greifbare und für die armen Massen tatsächlich zu Buche schlagende Veränderungen ergeben hätte.

In seiner Rede auf der großen Kundgebung in Rio de Janeiro vom Freitag, dem 13. März 1964 hatte Präsident João Goulart ausgeführt: „In einem Land, in dem man für den Boden, den man bearbeitet, Pacht zu entrichten hat, die 50% des auf diesem Stück Land erzielten Ertrages übersteigt, kann es keine preiswerten Lebensmittel geben. In meinem Staat z.B., im Staat des Abgeordneten Leonel Brizola, werden 65% der Reisernte auf gepachteten Flächen erzielt, und der Pachtzins übersteigt 55% des Gesamtwertes der Ernte. Was in Rio Grande passiert, ist also, dass der Pächter eines Stückes Land zum Anbau von Reis dem Eigentümer jedes Jahr auf‘s neue den Gesamtwert des bearbeiteten Ackers erstattet. Dieses unmenschliche, mittelalterliche Lehenswesen in der Landwirtschaft ist die Hauptursache dafür, dass die landwirtschaftliche Produktion unzureichend und viel zu teuer ist, wodurch dann auch die Lebenskosten für die unteren Schichten unserer Bevölkerung unbezahlbar werden."
Wie es vor und außer ihm auch andere Verfechter der Landreform, von Nabuco bis Julião, gehalten hatten, berief Goulart sich ebenfalls auf die Soziallehre der Kirche, wenn er beschwörend darauf hinwies, es sei der unvergessliche Papst Johannes XXIII gewesen, der uns gelehrt habe, dass die Würde der menschlichen Person als natürliche Lebensgrundlage das Recht auf die Nutznießung der Güter der Erde voraussetze. Daraus ergebe sich die fundamentale Pflicht, jedermann Eigentum zuzugestehen. Der Präsident wusste, dass sich die ihm vorschwebenden Reformen nur im Rahmen des Ausnahmezustands und mit Hilfe von Notstandsgesetzen realisieren lassen würden. Er vergaß nicht, hinzuzufügen: „Ich weiß um die Reaktionen, die zu erwarten sind ... doch können wir voller Stolz erklären, dass wir auf das Verständnis und auf den Patriotismus der tapferen und glorreichen Streitkräfte der Nation zählen dürfen."

Zwei Wochen später war es mit dem Verständnis der Streitkräfte vorbei!

Vor dem Kulminationspunkt der politischen Kämpfe jener Zeit - dem Sturz der Regierung Goulart durch die Militärs am 1. April 1964 - hatten sich Agitation und Konspiration im gesamten Bundesgebiet rapid verstärkt. Die Medien hatten ein gut Teil dazu beigetragen. Klagte der populistische Senator Brizola in einer seiner flammenden Freitagsreden eine neue Schandtat der Ordnungskräfte des Gouverneurs von Guanabara, Carlos Lacerda, an, brachte das Jornal do Commercio prompt die Meldung von der Brandstiftung in einer Zuckerplantage oder von der Invasion eines Latifundiums durch die Liga dos Camponeses. Bei näherer Betrachtung stellte es sich dann oft heraus, dass es sich um eine „Geisterinvasion" oder um ein „Feuer" handelte, das lediglich in der Phantasie eines Sensations-Reporters gelegt worden war. Dies soll nicht heißen, Francisco Julião und seine Genossen in der Führung der Ligas seien lauter Unschuldsengel gewesen; ganz im Gegenteil: sie setzten mit ihrer Demagogie und mit ihren Aktionen die Staatsregierung tatsächlich unter Druck! Die Invasion des Engenho Serra, einer bekannten Zuckermühle in Vitória de Santo Antão, bedeutete für die Regierung des sozialistisch gesinnten, jedoch zugleich dem geltenden Gesetz der Unverletzlichkeit von Privateigentum verpflichteten Gouverneurs Miguel Arraes eine beträchtliche Herausforderung. In einem „vorrevolutionären" Klima, wie die Romantiker und Guevaras de opereta es sahen, spukten Vorstellungen wie luta armada und „Sozialreformen, wenn nicht kraft des Gesetzes, dann mit Mitteln der Gewalt" in den Köpfen vieler linker Romantiker herum, vornehmlich unter der studentischen Jugend, allerdings in gleicher Weise bei manchen Militärs und Genossenschaftlern. Dass Zuckerrohrfelder in Alagoas und Paraiba und auch in Pernambuco tatsächlich niedergebrannt worden sind, ist nicht zu leugnen. Julião hat später zu erklären versucht, dass er niemals der Landbesetzung oder gar der Zerstörung von Pflanzungen das Wort geredet habe. Er habe den Menschen klarzumachen versucht, wie viel Mühe, Schweiß und Blut der Sklaven in den Aufbau der Fazendas gesteckt worden sei, so dass es schon aus diesem Grunde nicht erlaubt sei, diese zu zerstören.

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