Montag, 13. Juli 2009


„SCHWARZES VIEHZEUG" UND „FARBIGES ELEMENT"

Beobachtungen zum Thema *Menschenrecht, Toleranz und Humanität in Lateinamerika

Im Jahr 2000 beging man mit großem Aufwand überall im Land das 500. Jubiläum der „Entdeckung" Brasiliens durch den portugiesischen Seefahrer Pedro Álvares Cabral. Meine erste Begegnung mit der „ilha Brasil" lag fast ein halbes Jahrhundert zurück, so lag es mir daran, nunmehr das Fazit meiner Recherchen über Kultur und Geschichte dieses Landes zu ziehen. Eine Reise nach Argentinien, Paraguay und Brasilien im Jubiläumsjahr führte mir dann noch einmal besonders eindrücklich die Lage der Eingeborenen, der Schwarzen und der Landlosen, der Schwächsten also in der lateinamerikanischen Gesellschaft, vor Augen.
Auf der Plaza de Mayo von Buenos Aires erinnern in das Pflaster eingelassene Symbole an die vielen Menschen, die während der blutigen Herrschaft der Militärs ums Leben gekommen bzw. `verschwunden´ sind. Jeden Donnerstag versammeln sich die „Mütter der Plaza de Mayo" vor dem Regierungspalais zu einem Schweigemarsch. Sie fordern Aufklärung über den Verbleib ihrer Angehörigen und verlangen „Gerechtigkeit". Dazu gehört auch die Verurteilung der Schuldigen, die noch heute unbehelligt auf ihren Posten sitzen. Der Abgeordnete des Nationalparlaments Torres Molina unterstützt die Angehörigen der Opfer des staatlichen Terrors der 70er Jahre mit großem Engagement. Sein Assessor war einer der Exilierten jener Zeit, der bei uns in der Bundesrepublik Aufnahme gefunden hatte. Nürnberger Menschenrechtler pflegen die Verbindung zu den Freunden in Argentinien in besonderer Weise.
„Bis zum heutigen Tag sind wir ein kolonisierter und ausgebeuteter Kontinent", sagte einer meiner Kollegen in Rio de Janeiro. Der Leiter der Staatskanzlei von Rio Grande do Sul, Dr. Flavio Koutzii, sprach in einem Interview, um das ich ihn gebeten hatte, von einer erneuten Kolonisierung Brasiliens. Dazu nannte er ein Beispiel: Die fünf Geldinstitute des Landes, die von den ehemals vierzig brasilianischen Banken übrig geblieben sind, befinden sich heute mehrheitlich in spanischer oder portugiesischer Hand.
Alle Leute sagen, Brasilien sei eine Demokratie, in der Menschen unterschiedlicher Rassen ohne Diskriminierung zusammen leben. In den gängigen Statistiken heißt es, die Bevölkerung setze sich aus 53% Weißen, 34% Mischlingen, 11% Schwarzen und 2% Sonstigen zusammen. Die Zahl der Indios wird mit 300.000 angegeben - bei einer über 160 Millionen zählenden Bevölkerung!
Was die prominente Politikerin Benedita da Silva von der Gleichberechtigung aller Menschen in ihrem Land hält, hat sie mir ein einem Interview in aller Deutlichkeit erklärt: „Man hat uns viele Jahre lang weisgemacht, dass es hier keinen Rassismus gibt, sondern eine Pluralität der Rassen, und dies sei gleichbedeutend mit einer Demokratie. So wurde Brasilien als ein Land angesehen, in dem es keine Rassenvorurteile gibt und bei dem es sich in der Tat um eine Rassendemokratie handelt. Ich führe dies praktisch auf den Mythos der Rassendemokratie zurück. Wir, die von Afrikanern abstammenden brasilianischen Neger jedoch, wissen ganz genau, dass eine solche Feststellung nicht gerechtfertigt und dass jenes Bild von einer Rassendemokratie ein Irrtum ist, weil man, wenn man die Situation unter sozialen Gesichtspunkten betrachtet, eine außergewöhnlich große Anzahl von Ausgeschlossenen finden wird, und unter diesen wiederum befinden sich in erster Linie wir Neger und die Leute aus dem Nordosten."
„Wir tragen" sagte sie mir, „ein Erbe mit uns herum, genau so, wie Sie es in Ihrem Buch beschreiben. Ich habe es genau hier an dieser Stelle gelesen - ich verstehe zwar kein Deutsch, aber Sie benutzen hier ein portugiesisches Wort, so dass ich es lesen konnte. Es ist genau so, wie Sie es hier in Ihrem Buch ausdrücken: „Ware", produto, ein Produkt. („Durch ihre Versklavung hatte man den Schwarzen ihre Identität genommen. Ihr angestammter Name wurde nach der obligatorischen Taufe durch einen christlichen Namen ersetzt; jedoch auch mit einem neuen Namen versehen, blieben sie verkäufliche Ware. Als peças - wie Rinder oder Esel - wurden sie von den Sklavenhändlern bezeichnet. Es handle sich bei den Afrikanern um Leute, die mais tem de bruto que de gente - die wilden Tieren ähnlicher seien als menschlichen Wesen." So äußerte sich die Befragte einmal an anderer Stelle.) „Wir sind tatsächlich ein Produkt, und nur seine Gestalt hat sich verändert: heute sind wir - unter physischen Gesichtspunkten - nicht mehr dieses Produkt, das uns als Sklaven identifiziert, es leben jedoch dort, wo die Mehrheit der Bevölkerung aus Negern besteht, einige Segmente der Schwarzen, in einer weitgehend mit der Sklaverei identischen Situation, in einer Welt des Elends, und der Finsternis, gerade auch auf dem Sektor von Erziehung und Bildung... Wir müssen also feststellen, dass hier die Wurzel allen Übels liegt, auch die Ursache für den Mangel an Toleranz, den wir in der ganzen Welt erkennen."
Im Eingeborenen-Reservat von Inhacorá sprach ich mit dem Häuptling, João Camargo, der einer Gruppe von 800 Kaingang-"Indios" vorsteht. De facto geben die Bürokraten der Nationalen Indianerstiftung den Ton an. Die Kaingang betreiben Subsistenzwirtschaft auf einem Gebiet, das ca. 2.800 ha umfaßt. Vor einigen Jahren waren es noch 5.000 ha gewesen. 2.200 ha haben in der Zwischenzeit die „brancos", weiße Anlieger, die dem „schwarzen Viehzeug", wie sie die Indianer oft verächtlich nannten, von dem Territorium abgezwackt.
Seit sie 1993 als Staatsbürger anerkannt wurden, können die Indios ihr Land wieder selbst bebauen; doch in welchem Zustand haben sie es vorgefunden? Jahrzehntelang wurde der Naturwald von skrupellosen weißen Geschäftemachern abgeholzt. Der Boden wurde durch Monokulturen, wie die für den Export bestimmte Sojabohne, total ausgelaugt. Nur schrittweise kann begonnen werden, auf der Basis der Subsistenzwirtschaft die Grundlage für den eigenen Lebensunterhalt zu schaffen. Es fehlt an allem: an Saatgut und Kleinvieh ebenso wie an landwirtschaftlichen Geräten. Die Indianerschutzbehörde ist ein bürokratischer Wasserkopf. Kaum jemand dort versteht wirklich, was die Indios benötigen.
In Rio Grande do Sul gibt es nur noch 8.787 Kaingang und Guaranis auf einer Grundfläche von 60.330 ha in 17 Reservaten. Für zwei Gemeinden von 336 bzw.24 Eingeborenen muß über die Anerkennung des von ihnen bewohnten Gebietes erst noch durch die Justiz entschieden werden. Wen darf es wundern, wenn sich unter diesen Umständen bei den Indios der Wunsch verbreitet: `Wir wollen in Freiheit leben, wie zu der Zeit ehe der Portugiese nach Brasilien kam!´
Kurz vor dem Besuch bei den Kaingangs hatten, ausgerüstet mit Pfeil und Bogen, Indios in Mato Grosso eine Ortschaft belagert, um zu fordern, „was ihnen gehört": „Dieses Land ist unser!"
In Asunción lernte ich einen Ingenieur kennen, der eine Indianerstiftung leitet. Sein Vater, Leon Cadogan, Sohn australischer Einwanderer, hatte sich in der Indianerarbeit in außergewöhnlicher Weise engagiert und verschiedene Guarany-Sprachen studiert. In den 40er und 50er Jahren, als die Eingeborenen noch schutzlos der Sklaverei ausgesetzt waren, hat er mit Erfolg für das Recht der Indios gekämpft. Am Ende hat er eine umfangreiche Bibliothek über die Geschichte und Kultur der Guaraní-Völker Paraguays, samt einer Art von ethnologisch-anthropologischem Museum hinterlassen. Mit einem Indio fuhren wir in das benachbarte Luque, um dort eine „posada" zu besuchen, ein Grundstück, auf dem die Angehörigen eines Stammes der Guaranis „Unterkunft" finden, bis sie nach Erledigung ihrer Geschäfte in der Hauptstadt wieder in den Chaco zurückkehren können. Wir haben uns freundschaftlich unterhalten und ich erfuhr viel über die Unterdrückung dieser Menschen, deren Vorväter einst die Herren dieses Landes gewesen waren.
Was die Situation der Schwarzen betrifft, deren Vorväter Brasilien als Sklaven unfreiwillig „entdecke" mußten, widerspiegelt ein bezeichnendes Erlebnis, das ich in Porto Alegre hatte:
Im Regierungspalais wurde ich ins Vorzimmer des Chefs der Staatskanzlei weitergereicht, wo man mich bat, ein Weile Platz zu nehmen; vor mir sei nur noch eine Dame, eine Schwarze, an der Reihe. Als ein Sekretär auf der Bildfläche erschien, wandte sich dieser sofort mir zu, und fragte höflich, ob ich ein Glas Wasser annähme, worauf ein livrierter Diener mir artig cafézinho und Wasser anbot. Meine Nachbarin, neben der ich auf dem obligatorischen Ledersofa sass, hatte Glück, dass auch für sie ein Espresso samt einem Glas Wasser abgefallen war. Ich raunte ihr zu: „Da sehen Sie die democracia racial. Sie sind Brasilianerin, ich bin Ausländer, Sie waren zuerst hier, während ich erst nach Ihnen eintrat, doch ich habe helle Haut, also werde zuerst ich angesprochen. Vielleicht gibt es bis zum Jahr 2088 ein Gesetz, welches eine derartig offensichtliche Diskriminierung wirklich verhindert!" Damit bezog ich mich auf das `berühmte´ Jahr 1888, in dem am 13. Mai durch die Kaiserin die Abolition verkündet worden war. Obwohl seit der Aufhebung der Sklaverei weit über hundert Jahre vergangen sind, werden die Schwarzen in Brasilien noch immer als Bürger zweiter Klasse behandelt. Dabei sind von je zehn Brasilianern vier von dunkler Hautfarbe. De facto werden 60 Millionen Brasilianern bis heute die vollen staatsbürgerlichen Rechte vorenthalten, vor allen Dingen durch rassistische Mechanismen im Bildungswesen, aber auch auf dem Arbeitsmarkt. Eine ganze Reihe befreundeter Schwarzer haben mir bestätigt, dass sie auf Grund ihrer Hautfarbe entweder ohne Arbeit sind oder - auch als Akademiker - schlechter bezahlt werden als Weiße.
Es war eine schwarze Künstlerin - sie malte und machte Straßen- und Kindertheater - die in der Kurie von Salvador de Bahia genau wie ich auf ein Gespräch mit dem schwarzen Bischof Gílio Felício wartete, die mir im Verlauf unserer Unterhaltung ein paar Bildchen zeigte. Als ich fragte, welche Bedeutung diese Bildchen denn hätten, bedeutete sie mir: Sehen Sie sich das einmal richtig an! Es ist eine Kollektion von Kindern aus Bahia. Sie wählte ein halbes Dutzend solcher Bildchen aus und erklärte: Hier können Sie sehen: Das sind die Kinder von Bahia!" Sie waren alle weiß uns blondschöpfig.
Sogar im Bereich der Kirche sind gelegentlich Beispiele der Diskriminierung von Schwarzen zu registrieren. So berichteten Freunde aus Nova Iguaçú, einer Stadt im Großraum von Rio de Janeiro, in der überwiegend Schwarze leben, mit Abscheu vom Verhalten eines Priesters, der die bereits festgesetzte Trauung eines schwarz-weißen Paares mit der Ermahnung verhindert habe, die jungen Leute möchten sich die Sache doch noch einmal genau durch den Kopf gehen lassen. zwar verbietet das Gesetz jegliche Diskriminierung aus Gründen der Rasse, und man spricht nicht über die Hautfarbe des andern. Wie die Katze um den heißen Brei herum schleicht, windet man sich, wenn es um die Frage der Rasse geht. Am Ende bezeichnet man den Neger dann vorsichtig als ein elemento de cor - ein farbiges Element! So redet man sich ein, „Neger" gibt es in der Gesellschaft einfach nicht, darf es nicht geben! Es ist genau diese Haltung, die den vehementen Protest Beneditas hervorruft und sie fordern läßt: „Wir wollen wahrgenommen werden! Wir wollen als negros wahrgenommen werden!" Als Da. Benedita dies ausrief, dachte sie wahrscheinlich nicht daran, dass 50 Jahre zuvor Frantz Fanon (Black Skin, White Masks) herausgeschrieene hatte: „Get used to me, I am a Negro!" - Gewöhne dich an mich, ich bin ein Neger.
Die meisten offiziellen Studien ignorieren die Hautfarbe des Betreffenden, was die Analyse erschwert. Das Instituto Brasileiro de Geografia e Estatística - IBGE - fordert die Befragten auf, selbst die Tönung ihrer Hautfarbe zu bestimmen. Die Schwarzen haben jedoch, wie Benedita da Silva gelegentlich sagt, den subtil herrschenden Rassismus so sehr verinnerlicht, dass sie sich für alles mögliche halten, nur nicht für schwarz. Die Antworten der vom IBGE Befragten sind unglaublich. Sie ergeben ein Farbspektrum, das von einem unbestimmten café-com-leite - Milchkaffee - bis zu einem unverständlichen pardo bebê - babybraun - reicht. Als 1995 das Instituto Datafolha eine Gruppe von Personen nach ihrer Hautfarbe befragte, kamen über hundert verschiedene Antworten zusammen. Es gibt einen technischen Grund, weshalb man die Hautfarbe nicht vom Interviewer definieren läßt: Da es kein biologisches und katalogisierbares Konzept zur Bestimmung der Rassen gibt, böte sich dem Befrager Raum für seine eigenen Vorurteile; dann schon lieber 138 unterschiedliche Hauttönungen! Es ist erfrischend, eine Autodefinition wie die des 41jährigen Volleyball-Fans Isabel zu vernehmen, die ISTOÉ erklärte: Eu sou neguinha. Minha avó era uma mulatona linda e a mãe dela, uma negona - „Ich bin ein Negerlein. Meine Großmutter war eine hübsche Mulattin und ihre Mutter eine Schwarze." Es ist übrigens frappierend zu sehen, dass bereits die Franzosen - mit Blick auf ihre Untertanen in der Karibik - 128 Farbabstufungen registriert hatten!
Im Klassenzimmer haben es weiße Kinder leichter als dunkle, wie diverse Studien beweisen. Auch das schwarze Mädchen Benedita aus der Favela do Morro do Chapéu Mangueira mußte diese Erfahrung machen. Obgleich eine fleißige Schülerin, die ihre Hefte ordentlich führte, die in ihrer Klasse niemand in Kalligraphie übertraf, und der die Lehrerin die beste Note ankündigt hatte, erklärte man ihr beim Schulabschlussfest, es habe sich um einen Irrtum gehandelt. Negro não nasce para saber - heißt es bei Jorge Amado einmal - Der Neger wird nicht zum Studieren geboren! Rassenvorurteile gehören übrigens zu den Eigenschaften der Erwachsenen - und auch der Lehrkräfte! Die meisten Kinder bis zum Alter von 10 oder 11 Jahren besitzen keinerlei Rassenvorurteile, wie ein Kollege aus Porto Alegre, Harald Malschitzky, schon vor vielen Jahren dargelegt hat.
Die Lehrerinnen küssen weiße Kinder dreimal so viel wie Neger. Und auch, wenn es um die Religion geht, erfahren schwarze Kinder, dass sie nicht wirklich dazugehören. Benedita da Silva berichtet: „Als Kind träumte ich davon, bei der Prozession in der Kirche ein Engel zu sein. Ich bin nie ein Engel gewesen, weil die Nonnen sagten, dass es keine schwarzen Engel gibt."
Benedita da Silva, von den Ihren liebevoll Bené genannt, arbeitet mit der Bewegung der Schwarzen daran, für die TV-Werbeprogramme eine Quote von ebenfalls 40% für schwarze Darsteller zu erreichen. Bezeichnend war der Beitrag eines Babalorijá aus Recife, der auf einer Arbeitssitzung der Fundação Joaquim Nabuco, an der ich teilnehmen konnte, einen sehr bezeichnenden Vorfall heftig kritisierte: Für eine Verfilmung des Romans Gabriela, cravo e canela von Jorge Amado hatte man für die Rolle der Gabriela eine schwarze Darstellerin gesucht, am Ende jedoch eine weiße engagiert. Auf die Frage, warum man keine Schwarze für die Rolle einer negra genommen habe, kam die Antwort: „Wir haben mit 80 Schwarzen Proben vorgenommen, doch keine von ihnen besass die erforderliche Fähigkeit." Inzwischen sind gewisse Fortschritte zu verzeichnen. Dominierte in den gängigen Serien ein Image des Schwarzen, das ihn in die Nähe von Kriminellen, Doofen oder auch Verrückten zu stellen pflegte, so kann man Schwarze inzwischen auch in seriösen Rollen (inklusiv Werbespots) sehen. „Hat etwa schon einmal jemand in den Werbespots einen Schwarzen ein Glas Whisky trinken gesehen? Sie erscheinen nur als Kellner, Kriminelle, Pförtner, Hausangestellte oder aufgrund ihrer körperlichen Stärke, etwa beim Boxen, Fußball oder Olympischen Spielen, Nur ganz selten treten sie als Ärzte, Rechtsanwälte, Dichter, Philosophen oder Inhaber politischer Ämter auf", monierte Benedita. In den landesweit (und darüber hinaus: man verfolgt sie sogar in Russia) beliebten novelas - melodramatischen Fernsehserien - werden, wie brasilianische Kritikerinnen bemerken, „die Frauen und Schwarze systematisch als sich selbst entfremdet dargestellt. Steht ein Schwarzer im Mittelpunkt des Geschehens, kann es geschehen, dass diese Rolle von einem schwarz geschminkten weißen Schauspieler gespielt wird. Die Nebenrollen hingegen dürfen die schwarzen Schauspielerinnen ausfüllen: Prostituierte, Chauffeure, Gauner und das Heer der Dienstmädchen und Putzfrauen ... Shampoowerbung in Brasilien zeigt grundsätzlich Frauen mit langem, glattem, duftigem, meist blondem Haar." Die schwarze Frau werde, so die Kritikerinnen von Caipora, „durchgängig als naiv, wenn nicht dumm, abergläubisch, dick und hässlich dargestellt, sie trägt immer eine Schürze und ein Tuch um den Kopf."
In Rio Grande do Sul und Pernambuco führte ich Gespräche mit Angehörigen der Landlosenbewegung (MST), die entweder ein Latifundium besetzt hatten, wo sie dann über viele Monate oder Jahre in primitiven Behausungen aus Planen hausen mußten, oder sich bereits definitiv einrichten konnten und, in einfachen Häusern lebend, bereits ihrer bäuerlichen Tätigkeit nachgingen.
Eine UNO-Statistik belegt, dass Brasilien unter den Ländern der Erde mit der größten Bodenkonzentration in privater Hand an zweiter Stelle steht. Ungefähr 1% der Landeigentümer verfügen über 40% der gesamten landwirtschaftlich nutzbaren Fläche Brasiliens. Dabei handelt es sich um nicht weniger als um 80 Millionen Hektar.
Eine Untersuchung aus dem Jahre 1996 macht deutlich, dass in dem riesigen Land 4,9 Millionen bäuerlicher Familien unterhalb der Armutsgrenze vegetieren. 78% der ländlichen Bevölkerung verdienen pro Tag nicht mehr als zwei Reais, ungefähr zwei DM. Wen darf es da wundern, wenn die Miserablen unter solchen Bedingungen gegen das bestehende menschenverachtende System aufbegehren?
Nach ersten Landbesetzungen haben landlose Taglöhner 1984 die Bewegung der Landlosen (MST) ins Leben gerufen. Im Laufe der mittlerweile verflossenen 15 Jahre gelang es, im Zuge von 2000 Aktionen der Landbesetzung über 200.000 Familien von Landarbeitern auf 7 Millionen ha bis dato ungenutzten Bodens anzusiedeln. Heute leben auf diesen Flächen 20 - 30mal mehr Familien als dies vor der Okkupation der Fall gewesen ist.
Der Weg bis zur offiziellen Anerkennung solcher Okkupationen war nicht nur hart, sondern auch blutig. Die Kirche hat nachgewiesen, dass in den 12 Jahren von 1985 bis 1997 in ländlichen Regionen 1.003 Landarbeiter - Männer, Frauen und Kinder - und Anführer der Bewegung, wie Rechtsanwälte, kirchliche Mitarbeiter und Priester, im Zusammenhang mit Landbesetzungen ermordet worden sind. Weltweiten Protest erregten die der Bundespolizei anzulastenden Massaker von Corumbiara und Carajás. In all den Jahren kam es lediglich in 56 Fällen zu Strafprozessen, und nur 7 Personen wurden verurteilt. Alle übrigen gingen straffrei aus.
Nach diesen Beispielen der Missachtung von Menschenrechten namentlich in Argentinien und Brasilien sei zum Schluß aber auch noch ein persönliches Erlebnis, eine Begebenheit von beispielhafter Toleranz, berichtet: Man hatte für den 12. Februar in der katholischen Kirche von Casa Forte, Recife, die Taufe unserer brasilianischen Enkeltochter angesetzt. Als protestantischer Theologe sollte ich bei der Feier mitwirken. In einem Vorgespräch mit Padre Edivaldo, der ein guter Freund des bekannten Erzbischofs von Olinda und Recife, Dom Hélder Câmara gewesen war, erzählte ich ihm die folgende Geschichte, die mir Dom Hélder einmal berichtet hatte: `Eine Studentin aus Rio de Janeiro, die sich auf die Abfassung ihrer Dissertation vorbereitete, kam in unsere Region mit dem Bewusstsein ihrer geistigen Überlegenheit. Man schickte sie in eine entfernte Gegend, wo sie einem Fischer begegnete, der mit einem Korb voller Fische des Weges kam. Sie begann sich mit ihm zu unterhalten und fragte ihn, ob er wisse, wer der Präsident der Republik sei. Er wusste es nicht. Und wer der Gouverneur des Staates Pernambuco sei. Auch das wusste er nicht. Und wie heißt der Bürgermeister diese Ortes? Wiederum blieb er die Antwort schuldig. Die Studentin verhehlte nicht ihr Erstaunen darüber, dass jemand, der in diesem Lande wohnte, die Namen jener Persönlichkeiten nicht kannte, die doch fast aller Welt bekannt waren. Der Fischer nahm seinerseits ganz gelassen einen seiner Fische aus dem Korb, hielt ihn der Fremden vors Gesicht und fragte: „Weiß die Frau Doktor vielleicht den Namen dieses Fisches?" Sie verneinte. Er holte einen anderen hervor: "Und diesen hier?" Sie verneinte wiederum. „Und diesen dritten hier?" Sie mußte erneut passen. Da sagte der Fischer in aller Schlichtheit: „Dann müssen wir unsere Unwissenheit austauschen!" - Nachdem ich diese Geschichte zum Besten gegeben hatte, wurde ich ohne langes Federlesen eingeladen, die gesamte Taufhandlung zu übernehmen. Eine erstaunliche Offenheit!
Zur festgesetzten Stunde war ich an Ort und Stelle. Padre Edivaldo stellte mich nach der Messe der Gemeinde vor und kündigte an, dass nun der anwesende Pastor luterano aus Deutschland sein Enkelkind taufen werde. Die Gemeinde klatschte kräftig Beifall. Anstatt, wie am Vortag besprochen, bei der Tauffeier anwesend zu sein, sagte mir der Padre nun, es sei doch nicht sinnvoll, wenn er während der Taufe auch zugegen wäre, ich solle die Amtshandlung in aller Ruhe ganz allein vollziehen und zwar ganz genau so, wie es in meiner Gemeinde üblich sei. So wurde das Kind in einer der schönen katholischen Kirchen von Recife im Stil des Kolonialbarocks nach lutherischem Ritus getauft und danach in das Taufregister der römisch-katholischen Gemeinde von Casa Forte eingetragen. Dass der zuständige Kollege diese Form der Taufe in seiner Kirche gestattete, verriet eine ganz außergewöhnliche Toleranz. Er zeigte ein wahrhaft großes Herz! Eigentlich war es aber der gemeinsame amigo Dom Hélder Câmara, der statu invisibile seinen Segen zu der ungewöhnlichen Amtshandlung gegeben hatte!
So wird durch dieses sehr private Beispiel bestätigt, was ein protestantischer Kollege aus Rio mir im Blick auf sein Volk und Land einmal sagte, das allen Unbilden zum Trotz von der Hoffnung auf morgen getragen wird: „Wir sind umgeben von Unwissenheit, Armut und Leiden, und doch sind wir erfüllt von Hoffnung! In unserer Zeit sind es die Armen, die gekreuzigt werden. Der Boden unseres ganzen Kontinents ist von ihrem Schweiß und Blut getränkt, doch eines Tages wird sich erfüllen, worauf wir gehofft haben, und wir werden uns zu einem neuen Leben erheben."

Samstag, 11. Juli 2009


Luso-tropische Welt

Die Ausbreitung einer luso-tropischen Zivilisation bzw. die Europäisierung der Welt durch die Portugiesen
Heinz F. Dressel
Lassen Sie mich in einem "Wort zuvor" um Ihre besondere benevolentia bitten, denn dies ist der Beitrag eines Außenseiters: Es handelt sich um observationes und considerationes eines Theologen, der von Amts wegen viel in der Welt herum gekommen ist. Nicht fachwissenschaftliche Darlegungen eines Romanisten oder Ethnologen werden geboten, sondern Momentaufnahmen und Reflexionen eines Reisenden, ein paar Schlaglichter auf kulturelle Interrelationen zwischen Asien, Afrika, Lateinamerika und Europa. Was in diesem Aufsatz zusammengetragen wurde, habe ich auf Reisen beobachtet, ergänzend dazu Einschlägiges in der Literatur entdeckt und manches Detail in der Begegnung mit Menschen aus der luso-tropischen Welt erfahren. Für dies alles gilt jedoch, was einst Lúis de Cadamosto zu seinem Bericht bemerkte: "tratarei das coisas ... as quais, se por mim não forem tão ordenadamente postas como a matéria requer, pelo menos, não faltarão de inteira verdade em todas as partes." (CADAMOSTO, ed. Lisboa 1948)
Pablo Neruda wurde 1930 als Konsul seines Landes nach Batavia entsandt. In seinen Erinnerungen (NERUDA, 1974, 149-150) gab er eine hübsche Episode zum Besten: Eben in Java eingetroffen, machte er sich in seiner Hotelsuite daran, seiner Regierung in Santiago ein Telegramm zu schicken. In der Schreibtischschublade fand sich wohl Papier, es fehlte jedoch an Tinte. Er rief den Boy herbei und fragte ihn auf Englisch nach etwas Tinte. Der Junge ließ durch nichts erkennen, daß er den Wunsch des Gastes verstanden habe. Statt dessen rief er einen anderen Boy herbei. Als Neruda dann das Wort ink aussprach, tunkte er die Spitze des Federhalters in ein imaginäres Tintenfaß, und die Boys, es waren ihrer sechs oder sieben, blickten auf den komischen Fremdling, während jeder von ihnen dessen Bewegung mit dem Federhalter nachahmte und ausrief: ink, ink, und dabei krümmten sie sich vor Lachen. Verzweifelt verließ Neruda das Zimmer und eilte zum Empfangsschalter, gefolgt von den Boys. Da entdeckte er vor sich auf dem Schalter ein Tintenfaß, zeigte es den Jungen und rief aus: This! This! Da begannen die Boys alle erneut zu lachen und riefen aus: Tinta! Tinta! Nerudas Überraschung war perfekt! tinta, das portugiesische Wort für Tinte, wurde von den Malayen vor 500 Jahren aufgenommen und ist heute ein offizielles Lehnwort der Bahasa Indonesia, der indonesischen Sprache: tinta!
Auf meinen Reisen nach Ostasien, Afrika und Südamerika stellte ich immer wieder fest, daß viele Elemente der iberischen, vornehmlich aber der lusitanischen Zivilisation nahezu über die ganze Welt verteilt anzutreffen waren. Die "Lusotropikalisierung" in Übersee begann bereits mit dem cavalo, gado und galo. Schon Cabral präsentierte den staunenden Tupiniquim der Region Bahía eine portugiesische Legehenne und rief damit nicht etwa Entzücken, sondern große Abscheu vor einem so exquisiten und unansehnlichen Tier hervor. Von den brasilianischen Hähnen sagt man übrigens, sie hätten sich bis heute nicht völlig akklimatisiert, sondern krähten nach wie vor entsprechend der lusitanischen Uhrzeit. Es fiel mir auf, daß es zwischen den Kontinenten Afrika, Asien und Südamerika eine Vielzahl von Interrelationen gibt, die alle auf die historischen Unternehmen der Iberer, ganz spezifisch jedoch der Portugiesen zurückzuführen sind. Gilberto Freyre folgend, möchte ich von einer luso-tropischen Zivilisation (civilização luso-tropical) sprechen, wenn ich mich auf derartige Interrelationen beziehe. Freyre hat ungewöhnlich viel über diesen Aspekt geschrieben. Die wichtigsten Titel dieses Autors, auf die auch ich mich hier beziehe, sind: O Luso e o Trópico, (1961) Lisboa; Nôvo Mundo nos Trópicos, (1971) São Paulo; Em Tôrno de Alguns Túmulos Afro-Cristãos, (1959) Salvador de Bahia; O Brasileiro entre os outros Hispanos, (1975) Rio de Janeiro; Uma Cultura Ameaçada: A Luso-Brasileira, (1980) Recife.
Zum besseren Verständnis des prägenden Einflusses der Portugiesen auf viele Völker Asiens, Afrikas und Amerikas - der Beginn der `Globalisierung´ (!) - mag eine kurze historische Retrospektive hilfreich sein: António de Spínola wies in seinem Buch Portugal e o Futuro, dessen Erscheinen 1974 den Zusammenbruch eines autoritären Regimes in Portugal einleitete, auf die Tendenz hin, die für sein Volk im Verlauf seiner langen Geschichte bezeichnend gewesen ist: procurar fora o que dentro não se acha (SPÍNOLA, 1974, 21). Die Ökonomen würden hier vermutlich sogleich an materielle Interessen der Portugiesen denken, jedenfalls erinnert Manuel Nunes Dias daran, daß im Europa des 15. und 16. Jahrhunderts ein extremer Mangel an Metallen zu verzeichnen war (DIAS, 1967, 19, 21). Des weiteren erwähnt er eine tiefgreifende Krise infolge überschüssiger mão de obra. Dies mag durchaus von Bedeutung gewesen sein; auf jeden Fall bildeten kommerzielle Interessen - a ganância - die Triebfeder für die `descobrimentos´. Spínola wollte jedoch, als er auf die Tendenz seines Volkes anspielte, "außerhalb zu suchen, was innerhalb nicht zu finden ist", offenbar auf etwas Psychologisches aufmerksam machen: Man könnte nämlich - wie viele dies tun - mit einigem Recht durchaus von einer typischen "Klaustrophobie" des portugiesischen Volkes sprechen, von seiner Liebe zur See oder besser zu "Übersee" (ultramar)!
Es gibt gute Gründe, die einen derart geprägten Nationalcharakter der Einwohner Lusitaniens erklären, z. B. den Einfluß der Jahrhunderte langen arabischen Okkupation auf das Volk oder die Einwanderung osteuropäischer bzw. kleinasiatischer Juden nach Portugal. Beide Faktoren - die lange Herrschaft der mouros und die relativ starke mosaische Immigration - haben einen engen Bezug zu den Phänomenen Mobilität und einem dynamischem Lebensstil. Im übrigen war Portugal eine Nation von Seeleuten! Nach all ihren epochemachenden Entdeckungen, zuerst entlang der Küsten Afrikas, danach von Ländern wie Indien (1497-1499), Indonesien (1511), China (1511-1512) und Japan (1542-1543), vor allem jedoch der terra de Vera Cruz - Brasilien - (1500) pflegte man zu sagen: `e se Mais Mundo Hafer La chegara´.(MOURA, 1992, 44 f,) Fernando Pessoa charakterisierte die Portugiesen als uma raça Y que houve por tipo o aventureiro e o herói, eine Rasse für die der Abenteurer und der Held typisch waren. Jorge Borges de Macedo konstatiert, es sei unmöglich, Portugal ohne die Welt der Seefahrt zu verstehen, so wie es ebenfalls unmöglich sei, die Welt ohne Portugal als menschliche Wirklichkeit zu verstehen. Es war nicht verwunderlich, daß Henrique o Navigador, nach dem Sieg über die mouros in Ceuta (1415) und nach seiner Ernennung zum Großmeister des Christusordens, dessen Ziel es war, die Ungläubigen zu bekämpfen, eine Seeakademie gründete, in der Absicht, dem Islam in Afrika den Todestoß zu versetzen, indem man die Territorien der Kalifen im Norden Afrikas durch eine gut ausgerüstete Flotte vom Hinterland abschnitt. Der Prinz berief die besten Geo- und Kartographen Europas als Mitarbeiter an seine Navigationsschule und baute eine Flotte auf, mit deren Hilfe man neue Länder und Schiffahrtswege entdecken würde. Dabei spielte neben der religiösen Motivation der Gedanke an den direkten Zugang zu den orientalischen Gewürzen mittels der Umschiffung Afrikas eine entscheidende Rolle. Pfeffer war unerläßlich für die Konservierung des Fleisches. Die mouros kontrollierten das Mittelmeer ebenso wie die Routen entlang der ostafrikanischen Küste bis hinüber nach Indien. Damit beherrschten sie auch den Gewürzhandel. Der zur Zeit der descobrimentos blühende arabische Ost-West-Handel hatte bereits eine jahrhundertelange Tradition und auch die Chinesen tasteten sich ziemlich gleichzeitig mit den Portugiesen nach Afrika vor, von wo sie Rhinozerushörner, Perlen, Elfenbein und Sklaven (!) gegen Kupfer, Porzellan, Gold und Silber eintauschten.
Durch die Erforschung der afrikanischen Westküste, wo tief im Landesinnern der sagenumwobene Priesterkönig Johannes herrschen sollte, würden die Portugiesen Verbündete gegen die verhaßten Muslime gewinnen. Es kam allerdings erst zwei Generationen später, am Osterfest 1491, zur Taufe des kongolesischen Mani Sonyo, der sich nun Dom Manuel nannte. Wenig später wurden der benachbarte König Mbanza Kongo und mehrere seiner Edelmänner getauft. Damit besaß die portugiesische Krone verläßliche Verbündete und einen gesicherten Stützpunkt im Herzen von Africe sive Aethiopiae Pars. Manuel Nunes Dias erklärt solche Projekte auf dem Hintergrund einer extremen Armut der Portugiesen, die sie gezwungen habe, auf dem Ozean zu finden, was ihnen das Land nicht zu bieten vermochte. So hätten die Portugiesen im Atlantik den notwendigen Platz zur Expansion gefunden. Hier kommen dann also doch ökonomische Motive für das lusitanische "Fernweh" ins Spiel. Die Emigration ist ohne Frage ein wesentlicher Aspekt in bezug auf die portugiesische Demographie. Mitte des 17. Jahrhunderts soll die Zahl der Emigranten 1,2 Millionen betragen haben!
Doch zurück ins 15. Jahrhundert! Zwar mag Infante D. Henrique für die Portugiesen - und nicht nur für diese - zum Mythos geworden sein. Dennoch steht sein Name - wie auch der von Sagres - symbolisch zzurecht für eine generelle Tendenz Lusitaniens im 15. Jahrhundert, nämlich für Wissenschaft und Forschung, neue Technologien und eine fortschrittliche Marine. Die `Seeakademie´ in der Algarve war so etwas wie ein antikes Cape Canaveral oder das mittelalterliche NASA-Hauptquartier, in dem man modernste Instrumente zur Navigation ebenso entwickelte wie neuartige Schiffe, allen voran die um 1430 konstruierte, unübertreffliche caravela (BRAUDEL, 1992). Dieses Schiff vermochte hervorragend gegen den Wind zu kreuzen und war trotz größerer Frachtkapazität und stärkerer bellistischer Bestückung bei einer kleineren crew leichter zu manövrieren als andere Modelle. Es war zweifellos um ein Vielfaches schwieriger, das Kap der guten Hoffnung zu umsegeln und eine Schiffahrtsroute nach Fernost zu eröffnen als in unseren Tagen mit Hilfe eines Raumschiffes auf dem Mond zu landen. Die iberischen Entdeckungsreisen, angefangen mit der Umschiffung von Cabo Bojador durch Gil Eannes (1434) bis hin zur Namibiafahrt des Bartolomeu Dias (1487), leiteten in der "alten Welt" eine rapid um sich greifende Revolution ein, in die sich am Ende die ganze Welt einbezogen fand. Welche Revolution hätte wohl Gagarin oder Armstrong eingeleitet? Die Beglückung der Welt mit Sat-1 oder RTL und der Vorstellung vom `Krieg der Sterne´? Oder `a conquista dos espaços interplanetários em que, com a ajuda do Diabo, os homens actualmente estão prosseguindo?´, wie Orlando Ribeiro bissig bemerkt. (DAVEAU, 1994, 63)
Groß waren Energie und Phantasie der portugiesischen Seefahrer. Luís de Camões sagt in seinem 1572 publizierten Epos Os Lusíadas: "Os Portugueses somos do Ocidente, Imos buscando as terras do Oriente." (Canto I,50) Das Interesse der Portugiesen an den Ländern des Orients resultierte sicherlich aus der Zweiteilung der Welt durch Papst Alexander VI. im Jahre 1493: Die in der Neuen Welt entdeckten Gebiete wurden seitens des Vatikans zu spanischen Territorien erklärt; die verschiedenen Teile der Alten Welt als portugiesische Besitztümer respektiert. Auf der Suche nach dem Weg zu den Gewürzinseln, von denen Marco Polo Wunderdinge berichtet hatte , folgten die portugiesischen Seeleute der Route, die berühmte Kapitäne wie Diogo Cão oder Rui de Sousa entdeckt und die man über Jahrzehnte durch die Errichtung von Handelsniederlassungen - die berühmten feitorias - Befestigungen - fortalezas - und durch "völkerrechtliche" Maßnahmen, wie die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zum kongolesischen Mani (König) im Jahre 1490, abgesichert hatte (ENDRUSCHAT, 1990, 11 f.), entlang der Westküste Afrikas bis hinab zum Kap der guten Hoffnung. Dieser Weg führte sie bis hinauf nach Mosambik und Mombasa. Die Europäer waren ungemein neugierig auf Afrika, auf die Afrikaner und ihren König, ihr Gesetz und ihre Sitten. Man spürt dies, wenn man die Lusíadas liest: `Que gente será esta? (em si deziam) Que costumes, que Lei, que Rei teriam?" (Canto I,45)
Die Lusíadas vermitteln uns eine ziemlich deutliche Vorstellung von dem, was Afrikaner und Europäer damals von einander wußten oder doch zu wissen glaubten. Die Afrikaner werden den portugiesischen Seefahrern als Wesen vorgestellt, die von der Natur ohne Gesetz und Vernunft geschaffen wurden, - aqueles que criou a Natura, sem Lei e sem Razão (Canto I,53). Das war ganz nach der Auffassung des Aristoteles, dessen in Vergessenheit geratene Lehre den Europäern erst durch die mouros in Iberien wieder bekannt geworden sind. Die Afrikaner wiederum hatten bereits die Gewalt der Europäer erfahren, so daß sie unter Bezug auf europäische Seeleute sagten: `Todos seus intentos são para nos matarem e roubarem, e mulheres e filhos cativarem.´ (Canto I,79) Ein portugiesischer Schriftsteller nimmt Bezug auf D. Francisco de Almeida, der an einem einzigen Tag die Flotten Ägyptens und Cambaias zerstörte. Aus Rache für den Tod seines Sohnes wäre er bereit gewesen, das Blut des ganzen Orients zu trinken, hätte ihm nicht sein Nachfolger Albuquerque das Schwert aus der Hand genommen. (MENDOÇA, 1987, 16)
Unglücklicherweise blieb jahrhundertelang der Sklavenhandel einer der wichtigsten Faktoren hinsichtlich der Beziehungen zwischen Portugal und Afrika. 1450 hatte der Papst Alfons V. zugestanden, alle Bewohner entlang der afrikanischen Westküste als Sklaven zu betrachten. Entsprechend der aristotelischen Auffassung, nach der die Menschheit per naturam in Herren und Sklaven eingeteilt sei, die Sklaven aber seien mehr oder weniger unvernünftige und kaum mehr als Menschen zu betrachtende Wesen, sah man die Schwarzen Afrikas als Wesen, die ohne jedes Gesetz wie wilde Tiere lebten, an und betrachtete also die Sklaverei als eine Wohltat für die negros, da durch die Gelegenheit zur Annahme der europäischen Zivilisation und ihrer Wertvorstellungen sowie durch die Taufe auf jeden Fall ihre Seele gerettet werde. Um die Mitte des 16. Jahrhunderts war infolge des lukrativen Sklavenhandels jeder zehnte Einwohner von Lissabon ein Sklave.
Auf eine bemerkenswerte Sache sei besonders Bezug genommen: Als Mitte des letzten Jahrhunderts der deutsche Anthropologe Bastian durch Afrika reiste, stieß er im Kongo auf genuine Spuren einer vor langer Zeit introduzierten portugiesischen Zivilisation, die bis dato überlebt hatte. Es waren nicht nur portugiesische Namen, auf die er stieß, sondern auch Adelstitel, zeremonielle Kleidung und bestimmte Riten, wie sie unter den Noblen Portugals einmal gebräuchlich gewesen waren.
Manuel I. hatte im Jahre 1512 dem Kongo-König Nzinga-Mvemba (1506 - 1543) - auf den Namen Dom Afonso I. getauft - "Entwicklungshilfe" angeboten und geleistet. Auf fünf Schiffen schickte er nicht nur eine Anzahl von Haustieren, wie sie zu jener Zeit in Zentralafrika noch unbekannt waren, dazu auch neue Sorten von Pflanzen für eine bessere Ernährung der Bevölkerung, sondern er entsandte darüber hinaus gleichzeitig lusitanische "Experten" und "Spezialisten" im Rahmen eines erstaunlich gut durchdachten Programms für technische und kulturelle Kooperation (die GTZ des 16. Jhdts.!), darunter einige Maurer, Tischler, Agraringenieure, Lehrer und natürlich Missionare. (Der faszinierende Roman des Amerikaners Peter Forbath - DER KÖNIG DES KONGO - München 1996, läßt den Leser dies allees ganz plastisch miterleben. Allerdings wird in diesem Buch die Geschichte der Entdeckung Afrikas durch die Portugiesen dankenswerterweise zugleich gründlich entmythologisiert.) Neben anderen Dingen führten die Portugiesen das Zuckerrohr, mandioca (kassawa), den Mais und die - ursprünglich aus Indien stammende - Süßkartoffel (batata) im Kongo ein. Fast alle diese Pflanzen wurden aus der Neuen Welt herbeigeschafft, wo die Portugiesen - obwohl dies eigentlich gegen das päpstliche Dekret verstieß - Besitzungen unterhielten. Sicherlich ist es nicht übertrieben generalisierend zu sagen, die Hälfte der Früchte Afrikas stamme aus Lateinamerika. Andere Pflanzen wurden aus anderen, weit entfernten Regionen der Welt eingeführt und an allen möglichen Orten kultiviert. Der Mais wurde, wie Ribeiro, der von der `revolução do milho´ spricht, zu betonen nicht müde wird, zum Grundnahrungsmittel der Menschen im sub-sahaurischen Afrika. Die Portugiesen hatten denselben vom Nordosten Brasiliens nach Afrika verpflanzt, als sie sich plötzlich mit klimatischen Bedingungen konfrontiert sahen, unter denen es nicht möglich war, ihre gewohnten Nahrungsmittel (wie z. B. Weizen) zu gewinnen. Da war die Möglichkeit, über Mais zu verfügen, sozusagen providentiell. (RIBEIRO, 1994, 33)
Es kann kein Zweifel daran bestehen, daß die Portugiesen die verschiedenen Erdteile mittels der Seefahrt und indem sie allerlei Produkte, Pflanzen und Tiere, in alle Himmelsrichtungen hin und her verbreiteten, eng miteinander verbanden, so daß sich so etwas wie eine luso-tropische Zivilisation herausbildete. Indem sie dieses taten, gaben sie übrigens auch viele der Werte weiter oder sogar zurück, die sie als Volk durch die arabische Besetzung der iberischen Halbinsel gewonnen hatten. Einer dieser Werte war - das muß allen gegenteiligen Parolen zum Trotz betont werden - die Absenz einer jeglichen Art von "Rassismus" im Sinne einer Ideologie. Nicht nur die Menschen in den provincias ultramares - also die Einwohner von Angola, Mosambik, Guinea Bissau, Timor und Macau etc. - wurden als portugiesische Staatsbürger betrachtet, sondern sogar solche afrikanische Christen, wie sie im 16. Jahrhundert unter der Herrschaft des Congo-Königs lebten, wurden als Staatsbürger angesehen, die mit den gleichen Rechten ausgestattet waren wie jene, die in Coimbra oder in O Porto geboren waren. Es gab keine Rassenunterschiede zwischen Christen, `quando esta gente se torna cristã, era-o tão bem como qualquer outra´, war die gängige und vielfach bestätigte Auffassung. Das galt ja letztendlich auch für die Brasilianer. `São todos Pretos, mas somente neste acidente se distinguem dos Europeus´, urteilte P. Antonio Vieira. Übrigens waren selbst die Rechte derer, die im Mutterland geboren waren, in einer Gesellschaft, die von latifundiários und Geistlichen dominiert wurde stark begrenzt! Es darf in diesem Zusammenhang noch einmal ausdrücklich auf Gilberto Freyre bezuggenommen werden, der bei seiner Beschreibung Brasiliens unterstreicht, daß es in der kolonialen Gesellschaft keinen Rassismus gab. Nicht wie auch immer verstandene "Blutsbande" hätten die Nation zusammengehalten, vielmehr sei die Religion bzw. die `expressão espiritual´, das Bekenntnis zur Römisch-Katholischen Kirche, der Kitt gewesen, der alle Lusitanier, die in Übersee ebenso wie diejenigen auf dem Festland, zusammengehalten habe. Ribeiro drückt dies so aus: `Portugal brachte unterschiedliche Menschen und Rassen einander näher, und - was dies noch übertrifft - es brachte weiße Männer und farbige Frauen zusammen. So entstanden gemischte Gesellschaften, in denen sich schon allein von ihrer Herkunft her keine Rassenvorurteile bilden konnten. - Indem Portugal diese Menschen, von welcher Farbe auch immer, in das gleiche kulturelle Ambiente eintauchen ließ, ihnen die gleiche Religion überstülpte, sie in der gleichen Weise ihr Leben führen ließ, wobei es von den Zivilisationen, mit denen es in Berührung kam, auch vieles übernahm, erwies sich die portugiesische Zivilisation dennoch als die stärkste Prägung.´ (RIBEIRO, 1994, 20)
Ehe wir bestimmte Details einer "Portugiesischen Zivilisation" ansprechen, lohnt es sich, auf einen hervorragenden portugiesischen Chronisten des 16. Jahrhunderts, João de Barros, zu hören, der sagte: "Die portugiesischen Waffen und Stützpunkte, die sich in Afrika und Asien und auf zahllosen Inseln jenseits der Grenzen der drei Kontinente befinden, sind materielle Dinge, die vom Zahn der Zeit zerstört werden mögen. Die Zeit wird aber weder die Religion, noch die Sitten und die Sprache zerstören, welche die Portugiesen in diesen Ländern eingepflanzt haben." (PINTO DA FRANÇA, 1970, 3) Oder, wie Nunes Dias es sieht: "Portugal hat eine Neue Welt geschaffen, die in die Geschichte als ein wertvoller Bestandteil der christlich-okzidentalen Wirtschaft eingegangen ist." Während des gesamten 16. Jahrhunderts beherrschten die Portugiesen den Handel zwischen Europa und der afrikanischen Küste; sie kontrollierten Indien, die Gewässer Südostasiens, Kampuchea, China und Japan. Ziel und Zweck ihres ostasiatischen Unternehmens war die Entdeckung der berühmten Gewürzinseln. Zuerst dachte man, die teueren Spezereien wie Pfeffer, Zimt und Nelken kämen aus Indien, deshalb bezeichnete man den König von Goa als `rei da Pimenta´. Indische (hinduistische) Kaufleute hatten jedoch den Pfefferstrauch inzwischen nach Sumatra und Java gebracht. Zunächst war nach Afrika - Mosambik und Mombasa - das berühmte Land Indien das Ziel, wie Camões in seinem Epos sagt: "Sou da forte Europa belicosa, Busco as terras da India tão famosa." (Canto I,64)
Zwischen 1500 und 1606 war der "Indische Ozean" unwidersprochen das "Portugiesische Meer". (MENDOÇA, 1987, 15)
Nachdem die portugiesischen Seefahrer Goa (Marmagão) erreicht hatten, war Malaca das nächste Ziel, das sie eroberten. Danach segelten sie entlang der Ostküste Sumatras durch die Straße von Makassar (Ujung Pandang, Sulawesi) bis zu den Moluccas. Einem indonesischen Prinzen, der einen Kapitän der Portugiesen nach dem Grund ihres Aufenthalts in seiner Region befragte, erteilte dieser die sehr präzise und bezeichnende Auskunft: "Wir suchen Seelen und Gewürze." (In Calucut hatte es `cristãos e especiaria´ geheißen.) `Cristianisar e negociar´, lautete die Parole seit den Tagen der Erforschung des Kongo.
In den Lusíadas finden wir das Echo auf den Eindruck der im fernen Osten reisenden Seeleute beim Anblick der Javanischen See oder wie immer sie jene Gewässer hinter dem Indischen Ozean und im Süden Chinas mit seinen unendlich vielen Inseln bezeichnet haben mögen: "Olha cá pelos mares do Oriente, as infinitas Ilhas espalhadas." (Canto X,132)
Die Absenz jeglicher Art von "Rassismus" unter den Portugiesen wurde bereits erwähnt. Sie wird durch die portugiesische Praxis der "Mischehen" bestätigt. Bereits während der ersten Fahrt zu den Moluccas kam es zu einer solchen gemischten Ehe. Auf Francisco Serrão's Schiff befand sich eine javanische Frau, welche wohl die erste indonesische Braut eines portugiesischen Bräutigams gewesen sein dürfte, als Serrão sie in einem nordöstlichen Hafen der Insel Java heiratete. Er ließ sich in Ternate nieder und die Mitglieder seiner Besatzung folgten dem Beispiel ihres Kommandanten, indem sie indonesische Mädchen zu ihren Frauen machten. Serrão war der Auffassung, daß es günstig sei, wenn die Männer auf den Außenposten der Krone verheiratet waren, denn die Einheimischen würden mit ihnen lieber Geschäfte machen als mit nicht seßhaften Junggesellen. Die portugiesischen Wirtschaftsinteressen lagen also bei verheirateten Männern in besseren Händen. Sie waren beständiger und würden nicht nach Portugal zurückkehren wollen, weil sie in Gedanken an die moças in Lisboa, Coimbra oder O Porto immer krank vor Heimweh wären. Ein paar Jahre später bot die Krone den casados in Fernost zum Anreiz sogar so etwas wie Einrichtungsdarlehn an. Dies fügte sich perfekt in die Politik der feitoria, fortaleza e igreja ein, wie sie die Krone konsequent verfolgte. (PARAMITA, 1974, 113 f.) Den örtlichen Gebräuchen entsprechend, begegneten die regionalen Herrscher den fremden Seefahrern oft mit großem Respekt und empfingen dieselben nicht nur als geehrte Gäste in ihren Palästen, sondern manch einer trug einem Kapitän sogar die Hochzeit mit einer seiner Töchter an, um auf diese Weise die Beziehungen zu den offenbar sehr mächtigen Besuchern zu vertiefen. Nicht wenige Portugiesen ehelichten einheimische Prinzessinnen und richteten sich auf Dauer in der Fremde ein, wo sie bald sozusagen ihre eigenen Dynastien schufen. Es ist bekannt, daß El-Rei, D. Manuel I. die Vermischung (`cruzamento´) seiner Seefahrer favorisierte und daß die Krone zur Eheschließung mit indischen Frauen - besonders solcher aus Goa - ermutigte. Wegen der Eigentümlichkeiten des hinduistischen Kastensystems waren Ehen mit Frauen aus Goa allerdings so gut wie nicht zu schließen. Für Allianzen kamen nur bailadeiras - sozial stigmatisierte Tempeltänzerinnen - oder in der hinduistischen Gesellschaft massiv diskriminierte viuvas in Frage. Das eigentliche Ziel der Politik Lissabons bestand darin, die betreffenden Territorien zu bevölkern - `povoar´ lautete der terminus technicus für diese Methode. Besonders aus Brasilien gibt es dafür sehr anschauliche Exempel, z. B. was Diogo de Gouveia in seinem Brief an D. João III über die Kolonisation in Brasilien erwähnt: daß bereits drei Jahre nach der Zueignung von Ländereien an portugiesische Siedler vier- bis fünftausend Kinder geboren worden seien, dazu `outros muitos´ aus der Vermischung der Einheimischen mit den `Unsrigen´. (RIBEIRO , 1994, 20)
Die Portugiesen schienen für die Vermischung mit tropischen Völkern besonders prädestiniert zu sein. Mit dieser Einschätzung beziehen wir uns nicht nur auf Gilberto Freyre, der u. a. und sicherlich nicht zu Unrecht auf die Bewunderung der legendären Figur der `moura-encantada´ - einer berückenden dunklen und schwarzäugigen Frau - durch die Portugiesen hingewiesen hat. Daß die Iberer die `índios´ der Neuen Welt besonders attraktiv fanden, ist bis in die an die Krone gerichtete Korrespondenz der Conquistadores hinein zu verfolgen, z. B. in den `cartas´ von Pêro Vaz de Caminha, in denen der `encanto físico das Índias´ gepriesen wird. Die authentische menschliche Sympathie, wie die Portugiesen sie gegenüber farbigen Frauen empfinden, die Liebe für alle Frauen, gleich welcher Hautfarbe und die Akzeptanz aller Kinder, gleichgültig von welchen Müttern sie geboren wurden, werden von den meisten Autoren als beispielhaft für die portugiesische Menschenliebe (verdadeira humanidade) gerühmt. Häufig wird auf Vasco da Gama hingewiesen, der Moçambique `a terra de Ba gente´ nennt, wo sich Männer `de Bons corpos´ finden und Mädchen `que nesta terra parecem bem´. Ein klassisches Beispiel für die `Negrophilie´ der Portugiesen ist auch das Poem Camões über die `Barbara Escrava´, dem die Begeisterung für die exotische Weiblichkeit deutlich anzuspüren ist, wo er von der schwarzhäutigen Sklavin schwärmt, `von so süßer Gestalt, daß es selbst der Schnee sich schwört, seine Farbe zu ändern´ - `tão doce a figura que a neve lhe jura que trocara a cor´.
Alte Berichte wollen von einer romantischen Liebesgeschichte wissen, die sich 1545 zugetragen haben soll: Eine junge indonesische Prinzessin verliebte sich unsterblich in Dom João de Heredia und flüchtete sich in ihrer Herzensnot auf ein Schiff der Fremden. Man brachte sie darauf, so heißt es, ehrenvoll bis nach Malaca. Dort wurde in der Kathedrale die feierliche Trauungszeremonie zelebriert. Die christliche Gemeinde in Malaca (das sich von 1511 - 1641 in der Hand der Portugiesen befand) benützt noch heute eine portugiesische Mischsprache. Es wird auch von einer Romanze zwischen André Furtado Mendoça und der Prinzessin Calicaia, der Tochter des Königs von Talangane, berichtet: Während seines Aufenthalts in der Bucht von Talagane sprach Mendoça regelmäßig beim König von Talagane vor, woraus eine gegenseitige Sympathie entsprang. Im Palast begegnete er der einzigen Tochter des Königs, die mit dem König von Ternate verlobt war. Als Mendoça die Bestallung zum Admiral der Südlichen Meere erhielt, beschloß er, seine Beförderung in großem Stil zu feiern, und lud den König, die Persönlichkeiten von Talangane und ihre Offizieren zu dem Fest ein. Der König erschien mit zahlreichem Gefolge, darunter auch seine Tochter, Prinzessin Calicaia, die während der ganzen Festnacht kein Auge von der Gestalt des Generals wandte. Einige Zeit danach veranstaltete der König ein rauschendes Fest zu Ehren der Flotte. Bei dieser Gelegenheit kam es zu einem ersten Rendezvous des Admirals mit Calicaia. Von diesem Zeitpunkt an trafen sich die Verliebten häufig. Die Prinzessin arrangierte allerlei Versammlungen in ihrem Palast, zu denen stets auch einige Flottenkapitäne eingeladen waren. Bei solchen Veranstaltungen ergötzten sich die Prinzessin und ihre Freundinnen damit, die Gäste zu unterhalten, indem sie ihnen vorsangen und ihnen einheimische Tänze vorführten. Die Prinzessin verstand es, allerlei Gelegenheiten zum Alleinsein mit dem General herbeizuführen. Bald kam es zu ausgedehnten Perioden der Isolierung, besonders von dem Tag an, an dem Calicaia den Admiral eines Abends einlud, am Rande der königlichen Gärten in einem Wäldchen voll blühender Nelkenbüsche mit ihr spazierenzugehen. Den nächsten Tag verbrachte Mendoça hin- und hergerissen zwischen dem Gebot des Herzens und der Vernunft. Auf jeden Fall wollte er sich aus der Schlinge ziehen und seine Armada vor der Rache des Königs von Talagane retten. Admiral Sousa Arronches, der beste Freund Mendoças, der zum König von Talagane freundschaftliche Beziehungen unterhielt, drängte diesen, die Hochzeit Calcaias mit dem König von Ternate zu beschleunigen. Auf diese Weise würde sich das Problem von selbst lösen. (FRAZÃO, MENDOÇA, 1987, 117 f .)
Hier wird zugleich der nüchterne Sinn der Portugiesen für die Wirklichkeit und ihre Fähigkeit zur geschmeidigen Anpassung an konkrete Situationen bestätigt. Einige Jahre später heiratete der portugiesische Händler Francisco Vieira Figueiredo in Makassar eine Schwester des Sultans. Als sie starb, vermählte er sich mit des Sultans anderer Schwester. Mischehen waren nicht nur problemlos, sondern die Verbrüderung oder Vermischung der Portugiesen mit dem Exotischen und Tropischen wurde sogar gefördert, wie Gilberto Freyre festzustellen nicht müde wurde. Ohne Frage gab es auf indonesischer Seite, wo die Stammessitten sehr streng eingehalten zu werden pflegten, gewisse Schwierigkeiten hinsichtlich der Mischehen. Mit "Rassismus" hatte dies jedoch ebenfalls nichts zu tun, vielmehr war es die Adat, das indonesische Moralgesetz, das befolgt werden mußte. Einer meiner Freunde aus dem Batakland, der während des Studiums in Jakarta eine Javanerin kennenlernte, hatte zuerst Schwierigkeiten mit seiner Familie auf der großen Insel Samosir im Tobasee in Nordsumatra, als es um die Frage der Eheschließung ging. Ein traditioneller Batak darf unter gar keinen Umständen ein Mädchen heiraten, das nicht ebenfalls dem Batakvolk angehört. Die Lösung, dem brasilianischen jeito nicht unähnlich, entsprach der Adat: Die Javanerin wurde rituell in den Stamm der Batak aufgenommen!
Interessant ist ein Blick auf Dinge wie die Kleidung: Die Portugiesen brachten von Indien die weiße Unterwäsche aus Baumwolle, die öfter gewaschen werden konnte als die linnenen Hemden der Lusitaner, mit nach Europa. Bis zur Mitte des XVI. Jahrhunderts spielte auch der Handel mit brasilianischem algodão und sementes de algodão eine nicht unwesentliche Rolle. Die Baumwolle aus Brasilien konnte sich allerdings gegen die indische, die von wesentlich besserer Qualität war, auf die Dauer nicht durchsetzen. (SERRÃO/ MARQUES, 1992, 214) Selbst beim täglichen Bad bzw. der Dusche handelte es sich um eine aus tropischen Regionen importierte Neuerung. Die Indios aus dem Amazonasgebiet pflegten täglich mehrmals zu baden; in Goa, der portugiesischen Enklave in Südindien, waren die Menschen ebenfalls gewöhnt, sich täglich im kühlen Wasser des Ozeans zu erfrischen. Aus Indien stammt der Gebrauch des Pyjamas, und solches bei den Brasilianern nicht nur während der Nacht, sondern ebenfalls zur Abendzeit, beim Schwätzchen mit dem Nachbarn auf dem Strohstuhl vor dem Haus. Unser Sporthemd, das wir über der Hose zu tragen pflegen, stammt ebenfalls aus dem Osten. Man findet es in Indien so gut wie in Indonesien, wo man es sogar zur Audienz beim Präsidenten der Republik tragen darf, wenn es nur lange Ärmel hat. Der sombrero als Sonnenschutz kommt nicht etwa aus Mexiko, sondern aus dem fernen Osten, aus Java und Makassar. Die von den lusitanischen bachareis auch nach Brasilien verpflanzte Sitte, den Nagel des kleinen Fingers der linken Hand überlang wachsen zu lassen, stammt übrigens ebenfalls aus dem fernen Osten und ist dort noch heute anzutreffen, von China bis Vietnam oder Sulawesi.
Die Portugiesen brachten aus Brasilien die Tomaten, den Kürbis und den Maniok, Goiabas, Ananas, Papayas (mamão), Süßkartoffeln, Chili (den sog. Cayenne-Pfeffer) und die Avocado-Frucht - die aus Mexico stammt und deren Name vom aztekischen `ahucatl´ (Hoden) herkommt - (abacate) nach Indonesien. (FRANÇA, 1970, 27) Mais wurde an der Westküste, insbesondere in der Region Kongo und Angola eingeführt; mandioca fand erstmals 1601 bei dem deutschen Reisenden, Samuel Brum, Erwähnung . (DIAS, 1992, 137)
In Nord-Sumatra (Medan) ist der portugiesische Einfluß auf die Musik ebenso wie auf die Tänze der Region ganz offenbar. Die Tracht des Bräutigams ist von der portugiesischen Kleidermode des 17. Jahrhunderts beeinflußt. Mario Gibson Barboza berichtet von seiner enormen Überraschung, als er im Verlauf einer Reise nach Westafrika dort eine Gruppe von der Elfenbeinküste einen Tanz aufführen sah, der dem pernambukanischen frevo sehr ähnlich war, so daß seine Delegation sich sogleich ebenfalls dem Tanz hingab. Bei einer anderen Gelegenheit tanzten die Afrikaner einen bumba-meu-boi und sangen dabei auf portugiesisch, genau wie im brasilianischen Nordosten. (BARBOZA, 1992, 283 f., 290) Die Ähnlichkeit und teilweise sogar Identität der Geschichte, der Sprache und der Sitten zwischen der ehemaligen portugiesischen Kolonie Brasilien und Westafrika, beide 500 Jahre lang von der lusitanischen Kultur imprägniert, frappierte den Besucher, der nicht von ungefähr von Präsident Gowan in Lagos mit dem Gruß welcome home! empfangen wurde.
Auf dem Gebiet der Architektur führten die Portugiesen die Nutzung des Kalks (pedra e cal) Stein und Kalk beim Bauen ein. Der typische Stil bei der Errichtung von Torbögen und Fensterbögen kommt ursprünglich aus Marokko, die Charakteristika der `typisch portugiesischen´ Dächer - die roten Rundziegel und die elegant geschwungenen Dachenden (beirais arebitados) - stammen aus Fernost. Dort fanden sie zuerst beim Bau der chinesischen Pagoden Verwendung. Die Araber liebten als Bodenbelag und Wandverzierung quadratische Tontafeln mit arabesken Mustern, wie man sie in Granada bewundern kann. Mehr in Spanien als in Portugal wurde die Kunst der Gestaltung von Kacheln dann weiterentwickelt, vor allem in der Provinz von Valencia. Ab etwa 1500 bezeichnete man alle Kacheln, unabhängig von ihrer Farbtönung, als azuleijos, ("Blaue") Über die mouros gelangten sie auf die iberische Halbinsel. Im 17. Jahrhundert wurden, samt dem massenweise aus China importierten Porzellan, die blau-weißen Muster der Keramikplatten in ganz Europa und dann auch in Brasilien modern.
Léopold Senghor bezeichnete das Portugiesische einmal als uma língua civilizadora, eine zivilisierende Sprache. (BARBOZA, 1992, 305 f.) De facto war es die língua franca in Ostasien ebenso wie in Afrika und selbstredend in Portugiesisch Amerika.
Als einem durch seinen langjährigen Aufenthalt in Brasilien des Portugiesischen kundigen Reisenden in Indonesien und 20 Jahre lang im fast täglichen Umgang mit Indonesiern von Sumatra bis Sulawesi, die zum Zweck der Postgraduierung nach Deutschland gekommen waren, fiel mir der deutliche Einfluß des Portugiesischen auf die indonesische Sprache auf. Die Bahasa Indonesia verwendet eine große Zahl von Lehnwörtern aus dem Portugiesischen wie z.B. cadeira (Stuhl), janela (Fenster), martelo (Hammer), meja (Tisch), porta (Tür) und tela (Leinwand).
Das Portugiesische hat in ganz Asien deutliche Spuren hinterlassen. In Indien (es waren Freunde aus Tamilnadu, die mich darauf aufmerksam machten) - nicht etwa nur in Goa - sagen die Leute pau für Brot (pão), geredja für Kirche (igreja) und azócker für Zucker (açúcar).
Auch die Portugiesen haben ihrerseits viele Wörter aus anderen Sprachen in die ihre integriert. Eine dieser Wörter stammen aus Afrika, China oder Amerika. Sie wurden von den Portugiesen absorbiert und gelangten durch diese wiederum in andere Sprachen z. B.:
bambu, banana, bunda, cacá, cachimbo, caçula, caravana, chá/te, moleque, pagode, pipí, tabaco, tapioca, varanda.
Der Einfluß des Portugiesischen auf die ostafrikanische língua franca - Suaheli - ist deutlich erkennbar, z.B. bei folgenden Wörtern:
bas (ta)! (Genug! Schluß!), bendera (Flagge), sapatu (Sandale), vinio (Wein), geresa (Gefängnis - weil die Leute beim Gottesdienst mehr oder weniger hinter dem Zaun oder curral eingesperrt waren), mesa (Tisch).
Stärker noch als auf die weitverbreitete Verkehrssprache im östlichen Afrika, Suaheli, ist der Einfluß des Portugiesischen auf das, im nördlichen Angola gängige, Kimbundu. Im Küstengebiet zwischen der Mündung des Rio Poderoso (Zaire) und Luanda, das (anders als das Hinterland, in dem Kikongo gesprochen wird) zum Sprachraum der Kimbundu gehört, spielten sich bereits zu einem sehr frühen Zeitpunkt die Geschäfte mit den Ovimbundu-Händlern - insbesondere der Sklavenhandel - und die Eroberungszüge der Portugiesen ab. Der über Jahrhunderte währende Kontakt zu den Lusitanern brachte es mit sich, daß besonders das Kimbundu stark von portugiesischen Entlehnungen durchsetzt ist, z. B. (HUTH, 1991, 21 ff.)
kabalu - cavalo, kazaku - casaco, makina - máquina, ngalafa - garrafa, dilalanza - laranja, mbo - bom, finu - fin, mulatu - mulato. novu - novo.
Das Kapverdische Crioulo ist aus dem anhaltenden Umgang einheimischer Fischer mit Portugiesen und westafrikanischen Sklaven hervorgegangen. Wörter wie
sabe, pode, vive, diskubri (descobre), ki (que), ben (vem), talbes (talvez), duranti (durante), dirapenti (de repente), imbóra (embora), mésmu (mesmo), pasadu (pasado), purgunta (pergunta), raspósta (resposta), povu (povo), cusa (coisa), ténpu (tempo), raiba (ráiva), ricu (rico), pocu (pouco) oder tudu (tudo) sind ebenso anzutreffen wie kultura (cultura), momentu (momento), distinu (destino), dizenvolvimentu (desenvolvimento), kastigu (castigo), duenti (doente) etc. (PERL, 1989, 175 f.)
In Sierra Leone wird ein lusitanisches Wort häufig benutzt: sabi (was von Wissen - saber - kommt und im Sinne von "weißt du, verstehst du, du verstehst doch" gebraucht wird.)
Auf das Indonesische ist der Einfluß der portugiesischen Sprache besonders stark. Bestimmte Wörter wurden für die Umgangssprache adaptiert und dann in die Bahasa Indonesia aufgenommen:
beranda - Balkon, biola - Viola, bola - Ball, bolu - Kuchen, boneka - Puppe, deposito - Bankguthaben, garpu - Gabel, geredja - Kirche, kaldu - Suppe, kedju - Käse, kemedja - Hemd, kopi - Kaffee, medja - Tisch, mentega - Butter, Minggu - Sonntag, Natal - Weihnachten, nota - Rechnung, pesta - Festa, roda - Rad, Sabdu - Samstag, sabun - Seife, saya - Rock, sekolah - Schule, selada - Salat, sepatu - Schuh, serdadu - Soldat, sigar - Zigarette, tempo - Zeit, tenda - Zelt, tinta - Tinte, tjebol - Zwiebel, toala - Handtuch, total - gänzlich.
In den regionalen Dialekten finden sich zusätzlich zahlreiche Ausdrücke und Redewendungen, von denen hier einige wiedergegeben werden, z. B. aus der Region Menado:
barko - Boot, batata - Kartoffel, buraco - schlechter Mensch, cadera - Stuhl, japeo - Hut, kintal - Garten, milu - Mais, pombo - Taube, tambor - Trommel. Aus Flores stammen: galo - Hahn, porta - Tür, semana - Woche, ué - na sowas! Domingu Ramu heißt dort noch heute der Palmsonntag. In der Region Jakarta benutzt man die Ausdrücke: batata - Kartoffeln, chatu - schlecht, geizig (aus dem Hebräischen?), matuh - Busch, mel - Honig, moler - Frau (Prostituierte), moska - Fliege, rabu - Schwanz.
Es gibt eine große Anzahl von portugiesischen (und spanischen) Namen in Indonesien, auf den Philippinen, in Indien, Afrika und natürlich in Amerika, z.B.
Albuquerque , Almeida, Alves, Amaral, Araujo, Barbosa, Barnabas, Baros (Barros). Bela, Belo, Borges, Braga, Braganza, Branco, Cabral, Carrascalao, Carvalho, Castro, Conceição, Correa, Cunha, da Gama, da Costa, da Silva, da Costa, de Cruz, de Jesus, de Souza/Sousa, Dias, Domingos, Fonseca, Fereira, Fernandes, Figueiredo, França, Francis, Freitas, Gomes/Gomez, Kandero, Leite, Lopes, Lobato, Machado, Manuel, Marques, Martins, Mascarenhas, Menezes, Mesquita, Modesto Rico Monteiro, Nascimento, Nogueiro, Nunes, Oliveira, Parera, Pereira, Pinto, Prudente, Quello (Coelho), Reis, Ribeiro, Rodrigues, Salsinha, Sanches, Sarmento, Soares, Tavares, Torres, Trindade, Vasconcellos, Viegas, Vieira, Villacorta, Viola, Ximenes.
Auf meinen Reisen nach Afrika, in süd- und ostasiatische sowie in lateinamerikanische Länder stellte ich mit Erstaunen und zunehmender Bewunderung fest, in welchem Ausmaß die Portugiesen überall in der Welt die europäische Zivilisation ausgebreitet haben. In bezug auf Afrika bestätigte dies Léopold Senghor gegenüber Mario Gibson Barboza mit der Bemerkung: "Die Rolle Portugals in Afrika war außergewöhnlich als Faktor der Zivilisation." (BARBOZA, 1992, 306) Gleichermaßen trugen sie enorm zur Ausbreitung asiatischer, afrikanischer und lateinamerikanischer Muster, Sitten und Gebräuche (Kultur) bei, und dies nicht allein in der Metropole, in Europa, sondern weltweit. Auf diese Weise schufen die Kosmopoliten aus dem kleinen Portugal eine Art von luso-tropischer Zivilisation, die den ganzen Erdkreis umfaßt und die der postmodernen US-amerikanischen Coca Cola-Zivilisation nicht nachsteht. Daß die luso-tropische Zivilisation überall auf der Welt so gut und so schnell greifen konnte, ist vermutlich besonders darauf zurückzuführen, daß die Portugiesen ungewöhnlich kontakt- und anpassungsfähig sind und sich leicht mit anderen Rassen und Kulturen amalgamieren. Ich habe dies auf meinen Reisen immer wieder bestätigt gefunden: im gesamten südliche Afrika (und insbesondere in Angola) ebenso wie in Ost-Timor und natürlich an allen Ecken und Enden des brasilianischen "Subkontinents".
Gilberto Freyre sagte, die Portugiesen besäßen die Fähigkeit, sich mit den Tropen durch Liebe und nicht lediglich durch Gewohnheit - wie dies bei anderen Nationen der Fall sei - zu verbinden. Es besteht kein Zweifel an der Vorliebe der Portugiesen für warme Länder, leuchtende Farben wie gelb, grün und rot, ebenso wie für dunkelhäutige Frauen. Zur Vorliebe tropischer Menschen für leuchtende Farben eine kleine Beobachtung: Als uns zu Ostern einmal eine afrikanische Familie besuchte, bot meine Frau den beiden Kindern aus Malawi gefärbte Eier zum Mitnehmen an. Es war faszinierend zu beobachten, wie unter den grünen, gelben, roten, violetten, blauen, orangefarbigen und rosa Ostereiern das Mädchen ein gelbes und der Junge ein rotes auswählten. Je farbenfroher, desto besser!
Es gibt klare Gründe für die portugiesische tropicofilia infolge der Geschichte dieses kleinen Landes und des Großteils der iberischen peninsula, die seit eh und je ein Ort der Begegnung unterschiedlicher Kulturen bzw. Zivilisationen gewesen ist. Über Jahrhunderte waren weite Teile ihres Territoriums von den Arabern besetzt gewesen. Neben den Mauren befand sich auch eine große Zahl von Juden in Spanien und Portugal. Beide Gruppen übten einen starken Einfluß auf die iberische Lebensart, auf den Nationalcharakter, die Kultur, den Stil und die Mode der dort lebenden Völker aus. Geographisch zwischen Europa und Afrika gelegen - wo Afrika und Europa einander überlappen -, lassen die Menschen Iberiens eine klare Neigung zu "exotischen" Farben, Geschmäcken und Gerüchen erkennen, meinte Gilberto Freyre. Wie die Araber und die Juden gewohnt waren, häufig von einem Ort zum andern überzuwechseln - die Araber wegen ihrer nomadischen Traditionen und die Juden, weil man ihnen verweigerte, ein nationales Territorium zu besitzen - so seien auch die Iberer ungewöhnlich dynamisch, besonders jedoch die Portugiesen seien ein ungewöhnlich bewegliches Volk.
Zusammengepfercht auf ihrem schmalen Streifen Land, das auf der einen Seite von Bergen, auf der anderen - finis terrae - vom Atlantik begrenzt wurde, litten die Lusos an einer profunden claustrophobia. Zu Beginn des 16. Jahrhunderts wurden sie zu Tropikalisten und suchten nach entfernten, tropisch-heißen Ländern, die sie in Indien, Brasilien, Afrika, dem chinesischen Macau und in Indonesien (Timor, Java, Flores, Makassar und auf anderen Inseln) fanden.
Vor allem in Indonesien trug die Begegnung von malaysischen und europäischen Konzeptionen zu einem umfassenden emotionalen und intellektuellen Wandel auf beiden Seiten bei. Der indonesische Einfluß auf das portugiesische Denken sowie auf seine Kunst und Literatur war beträchtlich. Bei meinen Besuchen in Indonesien und im stetigen Umgang mit Indonesiern glaubte ich zu beobachten, daß auch der portugiesische Einfluß in Indonesien tiefgreifend war, und dies umso mehr, als auch die Indonesier für ihre bewundernswerte Gabe der Anpassung sowie der kulturellen Toleranz bekannt sind. Möglicherweise gibt es eine besondere Affinität zwischen Indonesiern und Portugiesen, die den Austausch fördert.
Aber auch in Indien - in der Region Bombay und ganz speziell in Goa - verstanden es die Portugiesen, eine luso-tropische Zivilisation sich entwickeln zu lassen, die man heutzutage als Goan culture bezeichnet. Diese manifestiert sich in einem spezifischen Temperament, das vom convivium mit der römisch-katholischen Kirche und der Eigenart der portugiesischen Herren, die sich seit der Eroberung der Stadt durch den Kommandanten Afonso de Albuquerque im Jahre 1510 im Lande befanden, geprägt worden war. (PEREIRA, 1987, 64)
Ich bin der Meinung, daß es die Portugiesen in einzigartiger Weise verstanden haben, eine Kultur, die wir mit Gilberto Freyre als luso-tropische Zivilisation bezeichnen, fruchtbar werden zu lassen. Als ein kleines, auf engem Raum zusammengedrängtes, Volk haben sie gewissermaßen ein Weltreich begründet und mittels ihrer Expansionspolitik eine neue Epoche eingeleitet und damit die Zukunft der Welt ganz entscheidend verändert.
Als ich zum erstenmal die Strände des nordöstlichen Brasiliens mit den unzähligen Palmen und den prächtigen Kokosnüssen kennenlernte, wies man mich darauf hin, daß dort nichts als kahle Dünen zu sehen gewesen seien, als einst die ersten portugiesischen Seeleute dort erschienen waren. Danach habe man Palmen aus Südindien ins Land gebracht. Gabriel García Márquez berichtet dem Leser in seinem Roman El General en su labirinto, dass, zumindest im nordwestlichen Teil des Subkontinents, zur Zeit seines Helden Simon Bolivar Eucalyptus- und Mangobäume noch nicht eingeführt gewesen seien. Der Reis, der heute ein Grundnahrungsmittel in ganz Brasilien darstellt, stammt ebenso aus Indien wie die beliebte mangueira, die von den Portugiesen auch in Afrika eingeführt wurde. Die afrikanische fruta pão wiederum eroberte Brasilien. Die Bohnen (feijão), ohne welche die brasilianische Küche überhaupt nicht mehr vorstellbar wäre, wurde von Europa nach Brasilien verpflanzt. So wie die Portugiesen Bäume aus Asien nach Amerika und Afrika brachten, führten sie den Maniok in Afrika und Tomaten in Indonesien und den cashew-Baum (cajueiro) sowohl in Afrika als auch im Orient ein, espalhando lavoura und misturando os produtos. Auch nach Europa brachten sie `fremdländische Gehölze´ - Araukarien, Zypressen, Föhren, Lorbeerbäume, Zedern, Magnolien. Übrigens liebten die Portugiesen die Tomaten so sehr, daß es heute eine bekannte kulinarische Bezeichnung gibt, nämlich für eine bestimmte Art von Soße, die mit vielen gequirlten Tomaten zubereitet wird und recht rötlich aussieht: à la portugaise, à portuguesa! In Brasilien registrieren wir den Einfluß der afrikanischen Küche, die erst einmal durch die Küchen in Lissabon gegangen war, mit farofas, vatapás, caruru, mocotós etc. Die ursprünglich in Amazonien beheimateten amendoim, Erdnüsse, eroberten als peanuts, die man in Deutschland zuzeiten auch als "Burnüsse" bezeichnete, die ganze Welt. Wo immer wir heutzutage Orangen begegnen - ursprünglich kommen sie aus Spanien und Portugal, wo die Araber sie akklimatisierten. Auch den Kaffee haben die Portugiesen von den Arabern übernommen, die ihn ihrerseits aus Äthiopien, exakt aus der Provinz Kaffa, eingeführt haben . Heute gibt es einen weltweiten Markt mit tropischen Produkten wie z.B. Tee (chá da Índia, ein japanisches Wort, während the aus dem Chinesischen kommt). Dazu kommen Nelken, Tabak, Kakao, Erdnüsse, Papaya, Zitronen, Limonen, Mais und andere tropische Erzeugnisse, bei denen es mitunter schwierig ist, den eigentlichen Ursprungsort zu benennen. Es ist in der Hauptsache den Portugiesen mit ihrem internationalen Handel zu verdanken, daß wir die meisten dieser Dinge heute fast überall antreffen.
Es war ein Franzose, Msr. Tavernier, der einmal bemerkte: "Der Portugiese hat ein besonderes Verdienst: Wo immer er hinkommt, tut er alles zum Nutzen derer, die später den Ort okkupieren, den er vorher selbst besetzt hat." - O Português tem este mérito: onde chega, faz qualquer coisa em benefício daqueles que venham no futuro ocupar o lugar por ele ocupado.
"Em um naviu que se aparta, em longincuas rotas, quem sabe até onde e até quando, vae um pouco do territorio pátrio."
Querino de Fonseca (Os Portugueses no Mar)
Bibliographie
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Manifestationen eines grenzüberschreitenden liberalen Protestantismus

curriculum
(Ich bin bereit, Lutherische Pfarrer in Brasilien 1897 - 1997, Im Auftrag des Martin-Luther-Vereins herausgegeben von Hans Roser und Rudolf Keller, MARTIN-LUTHER-VERLAG ERLANGEN 1997 ISBN 3-87513-112-6, S.138 f.)
I. Tabellarischer Lebenslauf
Heinz Friedrich Dressel, geb. 28. September 1929, getauft am 7. Oktober in Marktredwitz; 1936 - 1945 Volks- u. Berufsschule; 1944 Verwaltungslehre beim Landratsamt Rehau; 1945 nach Kriegsende Arbeit in einer Marktredwitzer Schreinerei; 1946 - 1952 Studium am Missions- und Diasporaseminar Neuendettelsau; Ordination am 5. Oktober 1952 in Marktredwitz, Dekanat Wunsiedel; Eheschließung mit der Hauswirtschaftsleiterin Ilse Wende am 6. September 1952 in Lauf/Pegnitz; 1952 - 1967 Pfarrer im Dienst der Evangelischen Kirche (Riograndenser Synode) in Brasilien: - 1952 - 1954 Pfarrer im neu gegründeten Pfarrbezirk Pratos, Kirchenkreis Santa Rosa; - 1954 - 1957 Pfarrer in Crissiumal, Kirchenkreis Santa Rosa, Mitglied des Vorstands des neu gegründeten Pfarrerbundes und Schriftleiter des Korrespondenzblattes; - 1957 - 1967 Pfarrer in Dois Irmãos, Kirchenkreis São Leopoldo, Kreisvorsteher, Mitglied der Theologischen Kommission der Riograndenser Synode, Vorsitzender der Theologischen Kommission des Bundes der Synoden (BdS), Mitglied der Prüfungskommission des BdS zum 2. theol. Examen, Direktor des Centro Rural Dr. Albert Schweitzer in Boa Vista do Herval, nebenamtlich Englischlehrer am Staatlichen Gymnasium Dois Irmãos; - 1967 Berufung zum Leiter des Predigerseminars und Pastoralkollegs in Araras, Rio de Janeiro; 1968 Pfarrer der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (EKHN) in der Gethsemane-Gemeinde Frankfurt am Main, Vorstandsmitglied der Hauptgruppe des Gustav-Adolf-Werks Frankfurt/M; 1972 - 1992 Leiter des Ökumenischen Studienwerks e. V. Bochum; Ab 1. 10. 1992 Ruhestand in Nürnberg.
II. Im Dienste der Diaspora- und Ökumene
Im Juli 1952 legte ich am Missionsseminar Neuendettelsau das Abschlußexamen ab. Nachdem im Direktorium die Entscheidung gefallen war, mich nach Brasilien zu entsenden, hatte ich mir beim Kirchlichen Außenamt die Verwendung in der Riograndenser Synode, die als theologisch offen galt, ausbedungen. Am 12. Oktober 1952 fand in der St. Johanniskirche zu Lauf a. d. Pegnitz die "Aussegnung", zusammen mit Johannes Knoch statt; darauf folgte ab Hamburg die Ausreise mit dem französischen Dampfer "Louis Lumiere".
Die Periode des Übergangs vom Alten zum Neuen in den 50er und 60er Jahren im Dienste des "Sínodo Riograndense" war sowohl politisch als auch kirchenpolitisch eine außerordentlich spannende Zeit. Von ihrem Selbstverständnis und ihrer Bewusstseinslage her befanden sich Gemeindeglieder und Pfarrer der Synode noch mitten in der "Nachkriegszeit", in der das Trauma fortwirkte, welches die staatlichen Repressionsmaßnahmen gegenüber allem "Deutschen" bei den Deutschbrasilianern bewirkt hatten. Dass mit dem Ende des "Dritten Reiches" auch für die Evangelische Kirche in Brasilien eine neue Epoche begonnen hatte, war damals den wenigsten klar; vielmehr machte man sich nach Art des gewohnten "Traditionsprotestantismus" recht unreflektiert an die Fortsetzung dessen, was diese Kirche hundert Jahre lang für die Menschen bedeutet hatte, und knüpfte wie selbstverständlich an die vorgegebene Tradition der "Bedienungsgemeinde" an, in der es üblich war, sich bei entsprechenden Anlässen durch die Amtshandlungen vom Pfarrer bedienen zu lassen.
Als ich Ende 1952 den Dienst in Rio Grande do Sul aufnahm, war noch auf Schritt und Tritt das Trauma der Jahre 1939 - 1946 zu verspüren, der Zeit, von der P. Ernesto Th. Schlieper in einem wegweisenden Vortrag "Über das Bekennen der Kirche" 1948 gesprochen hatte. Er beschrieb die Synode jener Jahre, zwar liebevoll, jedoch mit so deutlichen Worten, wie sie im Raum der Riograndenser Synode nie zuvor vernommen worden waren, als "eine Kirche, die wirklich eine kleine, in jeder Hinsicht bescheidene und unselbständige Kirche ist; die etwa hundert Pfarrer zählt, die ihr ausnahmslos von der Mutterkirche zugewiesen wurden", und scheute sich nicht, vom "großen Versagen der Synode", zu sprechen und freimütig zu bemerken: "Das Christentum unserer Gemeinden ist in weitem Maße ein naiv-säkulares Christentum". Nun aber gelte es, der Verkündigung neue Impulse zu geben und auf die Gewinnung der Fernstehenden hinzuarbeiten, "auf daß unsere Gemeinden wirklich Kirchengemeinden werden." Mit dem Ende der Riograndenser Synode zu Ausgang der 60er Jahre ging die ererbte Art von "Kirchentum" langsam dem Ende zu, um schließlich mit Beginn der Evangelischen Kirche Lutherischen Bekenntnisses in Brasilien (EKLB), einem neuen Typus von Kirchlichkeit Platz zu machen. Dieser war dann nicht mehr nur auf die Befriedigung der eigenen Bedürfnisse ausgerichtet, sondern besaß einen missionarischen Impuls, der nicht nur die Errichtung neuer Gemeinden in Mato Grosso oder Amazonien, sondern einen rasanten Integrationsprozeß auch in Bezug auf die "brasilianische Wirklichkeit" überhaupt in Bewegung setzte.
Als junger Pfarrer wusste ich mich eingebunden in einen freisinnigen Protestantismus, der in seiner Zuwendung zur Welt meinem fränkischen Freiheitssinn und Realismus entsprach. Neben Albert Schweitzer, der mich theologisch stark geprägt hatte, war für mich Friedrich Naumann so etwas wie eine "Leitfigur". Mit seinem sozialen und politischen Engagement hatte er mir für meine pfarramtliche Praxis, gerade in einem Land wie Brasilien, entscheidende Impulse vermittelt. Politisch sozial-liberal gesinnt, bewegte ich mich "zwischen Kapitalismus und Sozialismus", ohne mich einem der beiden Extreme zu verschreiben. Im Pfarramt vertrat ich nicht eine eng gefaßte lutherische "Zweireichelehre", die es der Kirche jahrhundertelang verwehrt hatte, den Kampf um die Weltgestaltung aufzunehmen, sondern hielt es im Sinne meiner theologischen Vorbilder geradezu für erstrebenswert, dass Glaube und Politik sich gegenseitig durchdrangen. In der täglichen Praxis des brasilianischen Pfarramts begann ich mehr und mehr die imaginären Grenzen zwischen dem "Reich der Kirche" und dem "Reich der Welt" zu überschreiten, um ohne theologische Skrupel an der Gestaltung einer "besseren Welt", so dachten wir mit unserem protestantischen "Fortschrittsglauben" oder mit unserem "desarrollismo" (wie man ihn später zu apostrophieren pflegte), an der "Entwicklung" des Landes mitzuarbeiten. Dies führte mich auch direkt in die brasilianische "Politik" und brachte mich mit den unterschiedlichsten Politikern in Berührung, von denen übrigens die evangelische Kirche lange Zeit offiziell kaum Notiz nahm. Im Brasilien der 50er Jahre wurde man fast von allein zum "Pionier auf jedem Gebiet, das man bearbeiten wollte", und begriff bald - um es mit Vilém Flusser zu sagen - "dass es geradezu eine Gemeinheit gewesen wäre, sich nicht zu engagieren."
Präses Dohms hatte die jungen Pfarrersleute aus Deutschland in den neu errichteten Pfarrbezirk Pratos, Distrikt Tucunduva - der insgesamt ca. 250 Mitglieder zählte - entsandt. Dieser Distrikt im äußersten Nordosten des damals weit ausgedehnten Munizips Santa Rosa galt bis in die Kriegsjahre hinein als "Neusiedlungsgebiet". Erst 1936/37 erfolgte eine nennenswerte Besiedlung durch russische, polnische, italienische und deutschstämmige Kolonisten. In einem Streifen von ca. 50 km zog sich zu beiden Seiten des Uruguay-Flusses ein fast undurchdringlicher Waldgürtel hin. Die Ortschaft Pratos war nur ein paar hundert Meter von der argentinischen Grenze entfernt.
Mir war es beschieden, zur Jahreswende 1952/53, sozusagen als boi de peixe die Arbeit im nunmehr "selbständigen" Pfarrbezirk zu beginnen. Den "boi de peixe" pflegte man als ersten Ochsen einer Rinderherde ins Wasser eines Flusses zu treiben, um die piranhas abzulenken, damit der Rest der Herde unbehelligt durch den Fluß gelangen konnte. Es galt in erster Linie schwierige Aufbauarbeit in den 5 Gemeinden der Pfarrei zu leisten: Es hieß, die Gemeinden und ihre Vorsteher für die Übernahme gemeinschaftlicher Verantwortung in der Parochie Pratos zu gewinnen und eine "Pfarrbezirksordnung" unter Dach und Fach zu bringen, den Finanzhaushalt des neuen Pfarrbezirks und die völlig unzureichenden Finanzen der Gemeinden zu sanieren, die Schulaufsicht über zwei Gemeindeschulen auszuüben, eine Gruppe der Frauenhilfe und einen Jugendkreis zu gründen sowie - nicht zuletzt - die Motorisierung des Pfarrers zu forcieren. 1953 wurde im Hospital von Tuparendi unser Sohn Ulrich geboren. Auf ökonomischen Problemen beruhende Unstimmigkeiten unter den Gemeinden ließen es ratsam erscheinen, nach knapp zwei Jahren die Pfarrstelle zu wechseln, um dem Bezirk die Anstellung eines weniger kostspieligen Junggesellen als Amtsnachfolger zu ermöglichen.
Der Aufzug in der Pfarrei Crissiumal fand am 3. September 1954 statt. 1936 waren die ersten Landkäufer aus der "alten Kolonie" in jene abgelegene Gegend gekommen. Seit 1943 war Crissiumal ein selbständiger Pfarrbezirk. Zu ihm gehörten 13 Filialgemeinden. In einer derart ausgedehnten Pfarrei, die einen auch physisch bis an die Grenze des Erträglichen forderte, bot die Rundfunkarbeit eine ideale Möglichkeit, die Kolonisten in ihren weit abgelegenen Weilern regelmäßig mit der Predigt des Evangeliums zu erreichen. Am Karfreitag 1955 begannen für den Pfarrer von Crissiumal die zuvor im Studio des Radio Colonial Ltda. Tres Passos aufgenommenen sonn- und feiertäglichen Rundfunkgottesdienste. Die stillen Nachtstunden ermöglichten kontinuierliche wissenschaftliche Studien und eine stetige literarische Tätigkeit, zu deren Früchten ein Beitrag in Hans-Werner Bartschs bekannter Reihe Kerygma und Mythos gehörte, in deren IV. Band - Die oekumenische Diskussion - ich zur Frage der Entmythologisierung aus der Sicht der "konsequent-eschatologischen Schule" Stellung genommen hatte (1955). Im Mai 1956 wurde im Hospital von Crissiumal unser zweiter Sohn geboren.
1956 wurde ich Mitbegründer und Vorstandsmitglied des Pfarrerbundes sowie Schriftleiter des von diesem herausgegebenen Korrespondenzblattes. Damals ergriffen zwei Synodalkreise unabhängig von einander die Initiative zur Gründung einer Standesvertretung der Pfarrer innerhalb des Bundes der Synoden (BdS). Überall wurde der fehlende kollegiale Zusammenhalt bedauert. Die durch geographische und räumliche Bedingungen gegebene Isolierung mancher Amtsbrüder machte sie zu Einzelkämpfern. Geistig und theologisch fühlte sich ein großer Teil der Kollegenschaft "im Exil". Der Pfarrerverein sollte sich auf alle dem Bund der Synoden angehörenden Pfarrer erstrecken, der Förderung im Beruf und der Vertretung der Standesinteressen dienen. Die erste Nummer des "Korrespondenzblattes" erschien im November 1956. Auf der Titelseite fand sich als Motto in einem großen Kasten Reinhold Niebuhrs Gebet: "Gib mit die Abgeklärtheit hinzunehmen, was nicht zu ändern ist. Gib mir den Mut, zu ändern, was zu ändern ist, und die Weisheit, das eine vom andern zu unterscheiden."
Nummer 2 vom Januar 1957 enthielt einen Leitartikel aus meiner Feder: Die Diasporapfarrer als "clerus minor", der sich auf einen Artikel OKR Schröders bezog. Über P. Grottke aus Neuendettelsau war bald darauf zu erfahren: "In Erlangen lag Deine Stellungnahme in Nr. 2 vor. Ich bemerkte, daß sie stark beachtet wurde." Die Frage nach der Rechtsstellung der `Neuendettelsauer´ und `Ilsenburger´ beunruhigte seinerzeit die Betroffenen hüben und drüben ganz erheblich. Zu Beginn der 60er Jahre begannen sich die entsprechenden Vorstöße aus den späten 50er Jahren hinsichtlich der Rechtsstellung der vom Kirchlichen Außenamt auf Lebenszeit nach Brasilien entsandten Pastoren dann kirchenrechtlich und praktisch auszuwirken. So wurde den Betreffenden ab 1962 die Ablegung des 2. theologischen Examens ermöglicht. Das Grundproblem war damit gelöst.
Ein anderer Schwerpunkt galt der Bewusstmachung der wirtschaftlichen Not in den Pfarrhäusern. Auch hier wurde im Laufe der Jahre Linderung geschaffen. Das Korrespondenzblatt trug wesentlich dazu bei, daß der Pfarrerbund auch gehört wurde. Dieser verschaffte sich zwar nicht nur durch das Blatt Gehör, ganz entscheidend jedoch gerade durch das Blatt. Dieses konnte Beiträge zahlreicher Autoren zu Fragen der Kirchenordnung, des Pfarrerrechts, der Praktischen Theologie, der Diakonie, der Kirchen- und Schulpolitik wie auch theologische Referate und Abhandlungen, z. B. zur Frage der Christologie, veröffentlichen.
Zu meiner Überraschung erhielt ich durch Präses Gottschald einen Ruf in die Gemeinde Dois Irmãos, Munizip São Leopoldo. Die Nähe zum "Spiegelberg" wo sich die Synodalleitung das Proseminar, das Colégio Sínodal, die Schriftenzentrale und die Theologische Schule samt einer einigermaßen gut ausgestatteten Bibliothek befanden, würde mir bei meine theologisch-wissenschaftlichen Arbeit förderlich sein, begründete Gottschald die Einladung. So trafen wir am 6.8.57 in Dois Irmãos ein. Der Pfarrbezirk umfaßte 6 Gemeinden im sogenannten alten deutschen Koloniegebiet. In einer mit Hilfe des Martin-Luther Vereins publizierten Arbeit habe ich später die Region detailliert beschrieben: DER DEUTSCHBRASILIANISCHE KOLONIST IM ALTEN SIEDLUNGSGEBIET VON SÃO LEOPOLDO, Rio Grande do Sul, Eine soziologische Studie unter besonderer Berücksichtigung von Dois Irmãos, Neuendettelsau 1967. Im Januar 1962 wurde in Dois Irmãos unsere Tochter Helga geboren.
1957 wurde ich durch die 52. Synodalversammlung zum Mitglied der theologischen Kommission berufen. Von der 55. Synodalversammlung wurde ich, wiederum für vier Jahre, in dieser Funktion bestätigt. Im Laufe der Jahre beschäftigte sich die Kommission u. a. mit der Frage nach dem rechten Verständnis der Ordination, mit dem Problem der Bekenntnisgrundlage der Riograndenser Synode und mit dem sehr praktischen Thema der Ordnung des kirchlichen Lebens. Als die Theologische Kommission später zu einer Kommission der EKLB geworden war - deren Vorsitz ich später innehatte- , befaßte sie sich auch intensiv mit der Frage der christlichen Verantwortung für die Welt. Sozialethische Fragen wurden damals immer dringlicher. Alle möglichen Denominationen hatten bereits rein biblizistische oder opportunistische Voten abgegeben. Wir wollten innerhalb der Confederação Evangélica ein grundsätzliches Wort sagen, jedoch erst einmal die Basis klären, von der aus überhaupt geredet und geurteilt werden konnte. 1959 wurde ich durch die Kreisversammlung des Synodalkreises São Leopoldo zum Kreisvorsteher des Kirchenkreises São Leopoldo gewählt. 1965 zum Mitglied der Prüfungskommission zum 2. theologischen Examen berufen, oblag mir die Beurteilung von Predigten und Katechesen der Kandidaten zum 2. theol. Examen. Als Prüfer in Liturgik wirkte ich bei der mündlichen Prüfung mit.
1963 begann unter der Leitung von Pfr. Oskar Lützow die Arbeit der Evangelischen Akademie mit dem Ziel, den Gemeindegliedern bei der Auseinandersetzung mit einer sich wandelnden Welt Orientierungshilfe aus der Sicht des Evangeliums zu leisten. Zunächst ging es darum, die Gemeinden anzusprechen und deren Angelegenheiten, z. B. die Gestaltung des Gottesdienstes ohne "kirchenregimentlichen" Druck, mit ihnen in aller Freiheit zu diskutieren. Später kamen im Gespräch mit Pfarrern und Gemeindevorstehern delikatere Dinge, z. B. Strukturfragen der Kirche, hinzu. Generell wurde angestrebt, möglichst viel Begegnung zuwege zu bringen: Begegnung von Glaube und Wissenschaft, von akademischer Theologie und Gemeindeglauben, von insidern und Randsiedlern der Kirche, von Kirchengemeinde und Bürgergemeinde, von Kirche und Staat, von Bürgern und Politikern, Begegnung über Kirchen- und Konfessionsgrenzen aber auch über die Landesgrenzen hinaus.
Lützow und ich haben von Anbeginn an eng zusammengearbeitet In verschiedenen riograndenser Gemeinden, aber auch in La Paz und Lima, bestritten wir zusammen einige Tagungen unter dem Thema Der Mensch zwischen Wissenschaft und Glauben. Mir kamen dabei eine themenbezogene Predigt im Gottesdienst sowie ein Referat - "Naturwissenschaft und christlicher Glaube" - in deutscher oder portugiesischer Sprache zu. In Porto Alegre übernahm ich in der Vortragsreihe Profile zeitgemäßer evangelischer Theologie die Präsentation Rudolf Bultmanns. Im Rahmen einer Theologischen Arbeitsgemeinschaft, in der das Gespräch innerhalb einer theologisch recht unterschiedlich geprägten Pfarrerschaft gepflegt werden sollte, übernahm ich einmal ein Referat zum Thema "Vernunft und Offenbarung", ein andermal zum Thema "Vernunft und Wunderfrage".
Rio Grande do Sul war in den 60er Jahren noch zu zwei Dritteln Agrargebiet. Die Gemeindeglieder waren überwiegend ländlich geprägt. Dem Akademiepfarrer ging es auf diesem Hintergrund einerseits darum, die Gesamtkirche für die Belange der bäuerlichen Bevölkerung zu interessieren, während zum andern die Betroffenen selbst angeleitet werden sollten, ihre Lage zu erkennen, um gangbare Lösungen ins Auge fassen zu können und der zumindest auch ein Stück weit "selbstverschuldeten" Unmündigkeit, in der sie subsistierten, zu entrinnen. Die Akademiearbeit war Aufklärung, iluminação, in Reinkultur, Aufklärung jedoch, die nicht bei der "Nabelschau" stehen bleiben wollte, sondern die Menschen zu sozialer Verantwortung und Engagement anhielt, getrieben vom Evangelium, nicht von einem ideologisch bestimmten Aktivismus und Immediatismus. Im Verlauf gemeinsamen Reflektierens kamen wir auf die Idee, es einmal nach dem Muster der Evangelischen Bauerntage, wie es sie im Schoße der bayerischen Landeskirche, auf dem Hesselberg, seit Jahren gab, zu versuchen. Insgesamt wurden fünf solcher Bauerntage im Pfarrbezirk Dois Irmãos abgehalten.
Das Bemühen um eine immer konkretere Präsenz der Kirche und damit um ein immer intensiveres Zeugnis der Zuwendung Gottes zu den Menschen führte zur Gründung des Centro Rural Dr. Albert Schweitzer in Boa Vista do Herval, wo 1966 die Arbeit aufgenommen werden konnte. Die Grundidee, die zur Errichtung des Landwirtschaftszentrums geführt hatte, war der Gedanke der Rural Extension als Instrument zur Vermittlung fachlichen Wissens, sozusagen ein Programm zur geistigen und technischen Aufforstung der Landbevölkerung. Der Begriff Rural Extension umschließt sowohl Bildung als auch Ausbildung der Landbevölkerung, und dies auf allen nur denkbaren Gebieten, wie: Landwirtschaftliche Technik, Hauswirtschaft, Hygiene und Erziehung zum Gemeinschaftsleben (was man auch als Politik im eigentlichen Sinne des Wortes bezeichnen könnte). Eine weitere Idee, die bei der Gründung des Landwirtschaftszentrums Pate stand, war die, daß eine evangelische Landgemeinde auch aus Gründen der religiösen Erziehung und des kirchlichen Zusammenhalts ein Zentrum brauchte in dem eine umfassende religiöse und menschliche Bildung sowie die Pflege christlichen Gemeinschaftslebens ein Stätte haben würde.
1965 nahm ich zusammen mit Präses Gottschald, Oskar Lützow, Dr. Harding Meyer und anderen Amtsbrüdern an einer theologischen Tagung der Missourisynode im Concordiaseminar Porto Alegre teil. Dies war ein Anfang in Richtung auf eine stärkere Integration der beiden lutherisch geprägten Kirchen Brasiliens hin, die sich dann u. a. 1967 in einer gemeinsamen - "Consulta de Diaconia e Ação Social de Igrejas Luteranas do Brasil manifestierte. Ich hielt dabei das Einführungsreferat über das Thema A Realidade Sócio-econômica e cultural na Zona Rural.
Auf Bitten des Kirchenpräsidenten D. Ernst Schlieper hatte ich zu Beginn des Jahres 1967 zugesagt, die Leitung des Predigerseminars und Pastoralkollegs der EKLB in Araras, Rio de Janeiro zu übernehmen und mich dort sogleich um die stockenden Bauarbeiten zu kümmern. Während unseres Deutschlandurlaubs im Sommer 1967 sollte u. a. die Beschaffung von Büchern für die Seminarbibliothek betrieben werden. Kaum in der Bundesrepublik angekommen, erreichte mich jedoch ein Brief D. Schliepers, dem zu entnehmen war, dass der Rat der EKLB die Berufung aufgrund meiner Ende 1966 in Bern erschienenen christologischen Studie KRISE UND NEUANSATZ DER CHRISTOLOGIE, zurückgenommen habe. In Anbetracht der Haltung des Rates der EKLB stellte ich den Antrag auf Rückkehr.
Mit Wirkung vom 16.1.1968 wurde ich Pfarrer der EKHN und übernahm den 2. Bezirk der Gethsemanegemeinde in Frankfurt am Main. Ohne Frage stellte die neue Tätigkeit just zu Beginn der Studentenrebellion eine Herausforderung dar, die mich ebenso reizte und mir ebenso viel Freude machte, wie die Predigtarbeit in einer weltoffenen Stadt, in der Martin Rade einst an der Paulskirche und Friedrich Naumann als Vereinsgeistlicher des "Vereins für Innere Mission" gewirkt hatten. Ich kam nach Frankfurt am Beginn jener Jahre, die den Anstoß brachten, gerade die jüngere Generation mit ihrem Drang nach Neuerung und Öffnung der Kirche für die Aufgaben einer sich schnell wandelnden Welt ernster zu nehmen als je zuvor. Bei meinem Amtsantritt hatte ich klar ausgesprochen, dass ich das Amt des Pfarrers als eine Berufung "zum Bau des Ganzen", zu einem umfassenden "Dienst an der Gesellschaft im weitesten Sinn" verstand. Was in den Gottesdiensten der Gethsemane-Gemeinde erprobt werden konnte, geschah in dem Bemühen, durch gewohnte Formeln hindurch den Menschen aus der Vereinzelung inmitten einer nur feiertäglich geschmückten "Sonntagswelt" herauszuholen und ihn zurückzuführen zum bewussten Dienst aneinander und in einer Welt, die insgesamt der Hilfe bedurfte.
Die Brasilienerfahrung floß einerseits in die Gemeindearbeit mit ein, andererseits führte sie mich auch darüber hinaus. Auf der Lateinamerikanischen Arbeitskonferenz unter dem Thema "El futuro del protestantismo latinoamericano y la estrategia del Consejo Mundial de Iglesias", die im Juli 1969 beim WCC Genf stattfand, hatte ich ein Referat unter dem Thema "Historia e Problemas das Igrejas de Imigração" übernommen und dabei 4 Probleme besonders herausgestellt: 1) Das Problem der Bewusstseinsbildung in der Mitarbeiterschaft der Kirchen, angefangen bei den Pastoren. Es gelte die Devise: "Wer seine Welt nicht kennt, kann nicht verantwortlich planen und handeln" 2) Die Integration und Akkulturation der Menschen in den ländlichen Regionen müsse vorangetrieben werden, um diese vor der völligen Degeneration zu bewahren. 3) In "unterentwickelten" Gebieten genüge die Predigt des Evangeliums nicht. Es bedürfe der sozialen Assistenz, welche die Predigt begleiten oder dieser sogar vorausgehen müsse. Es müsse deutlich werden, daß es nicht nur "consolo espiritual" - geistlichen Trost - gebe, sondern ebenso "amor prático ao necessitado" - Liebe zum bedürftigen Nächsten. Die Kirche habe sich darüber hinaus nach Kräften einzusetzen und soziale Gerechtigkeit für ganz Lateinamerika zu reklamieren. Dies dürfe nicht als opus alienum oder "Politisierung der Kirche" abgetan werden. 4) Die Kirche benötige Personal, jedoch nicht, um den status quo zu bewahren, sondern um geistlich und diakonisch in die Gesellschaft hineinzuwirken. Dazu sei auch eine grundlegende Erneuerung des Finanzsystems der EKLB vonnöten: Der Reiche zahle dort traditionell nicht mehr als der Arme. Die Frage sei erlaubt: "Hat sich die evangelische Kirche mit den Reichen verbunden", wie einst die römische Kirche? Hier müsse die "soziale Revolution" innerhalb der Kirchen anfangen! Auch in dieser Hinsicht sei Bewusstseinsbildung nötig. Schließlich sei auf eine sinnvolle Änderung der theologischen Ausbildung hinzuwirken: Soziologie, Politologie, ökumenische Theologie, lokale Kirchengeschichte müßten in das curriculum einbezogen werden. Mit Exegese und Dogmatik allein sei man der lateinamerikanischen Wirklichkeit so wenig gewachsen wie der deutschen!
Die Berufung in das Ökumenische Studienwerk e. V. Bochum führte mich von 1972 - 1992 in die ökumenische Bildungsarbeit, die zugleich Besuche in zahlreichen Ländern Süd- und Mittelamerikas, der Karibik, des afrikanischen Kontinents sowie Ost- und Südostasiens beinhaltete, bei denen auf der einen Seite die bisherige Auslandserfahrung zum Tragen kam und auf der anderen Seite sich der ökumenische Erfahrungshorizont zum Wohle der uns anvertrauten Stipendiaten aus Übersee kontinuierlich erweiterte. Der objektive Ertrag oder die subjektive Wirkung dieses weltweiten Dienstes läßt sich statistisch kaum verifizieren und schon gar nicht quantifizieren. Immerhin deutet das unvermutete Echo aus dem Munde eines früheren Stipendiaten auf profunde Effekte hin: "Sie mögen es vielleicht nicht glauben, aber tatsächlich hat Ihr Christentum im allgemeinen und Ihr Luther im besonderen, unser Leben stark beeinflußt. Die ökumenische Erfahrung, das convivium mit Personen anderen Glaubens, ist eine Erfahrung gewesen, die bewirkte, daß wir uns als menschliche Wesen glücklicher fühlten. Es hat uns motiviert, weiterhin für eine bessere Welt zu kämpfen. Kämpfen heißt nicht etwa mit Waffen oder durch Gewaltanwendung zu kämpfen, sondern eine starke humanistische Motivation zu haben. Der Zweck heiligt nicht die Mittel. Wir glauben, daß die Erfahrung Christi es wert ist, wiederholt und auf sich genommen zu werden."
Der Ruhestand in Nürnberg ermöglichte dem Emeritus neben dem ehrenamtlichen Engagement für die südbrasilianische Regionaluniversität UNIJUÍ - das ihn sogar in einige Universitäten Rußlands führte - und der Mitarbeit beim Nürnberger Menschenrechtezentrum - Dokumentation- und Informationszentrum Menschenrechte in Lateinamerika (MRZ/DIML) die Verwirklichung lange zurückgestellter literarischer Projekte wie die jüngsten Veröffentlichungen zu Lateinamerika: BRASILIEN - VON GETÚLIO BIS ITAMAR Vier Jahrzehnte erlebter Geschichte, ELA-Edition Lateinamerika ISBN 3-929044-04-8 (1995) 39,80 DM- wovon 1997 bei Editora UNIJUÍ auch eine brasilianische Ausgabe erschien: Brasil de Getúlio a Itamar, Quatro Décadas de História Vivida ISBN 85-85866-39-x (R$ 25,00) - sowie KIRCHE UND FLÜCHTLINGE, Das Flüchtlingsprogram des Ökumenischen Studienwerks e.V. Bochum, FDL-Verlag Augsburg, ISBN 3-922740-19-7 (1996) DM 38.- und der Reseña de TORTURA NUNCA MAIS: DOSSIER DOS MORTOS E DESAPARECIDOS POLÍTICOS A PARTIR DE 1964, memoria, Revista del Centro de Derechos Humanos de 8/1996, pg. 51 ff., die sich zu früheren Veröffentlichungen hinzugesellen, unter denen besonders herausragen: DAS REICHE LAND DER ARMEN, BRASILIEN - HEUTE UND MORGEN, Freimund Verlag Neuendettelsau, 1971; VERFOLGT UM DER GERECHTIGKEIT WILLEN, DER KONFLIKT ZWISCHEN STAAT UND KIRCHE IN LATEINAMERIKA, Freimund Verlag Neuendettelsau, 1979; Anuário, Jahrbuch für Bildung, Gesellschaft und Politik in Lateinamerika, Münster 6/1981, DIALOG MIT DEM ANDEREN BRASILIEN, S.225 ff.; Anuário, Jahrbuch für Bildung, Gesellschaft und Politik in Lateinamerika, Münster 12/1984, NICARAGUA 1984 - EXPORT DER REVOLUTION ODER IMPORT DES KRIEGES? (Reisebericht und Interviews), S.219 ff.
ANHANG
Aus den Nürnberger Jahren

Im Februar 1994 konnte ich mit meiner Frau Ilse eine Reise nach Olinda/Recife zu unserem Sohn Ulrich unternehmen. Dort lernten wir dann Ulis pernambukanische Frau, Vera de Sena, kennen. Vom Gästeapartment unserer früheren Stipendiatenfamilie Barros aus, konnten wir allerlei Abstecher in die Umgebung machen. Ich traf alte Freunde, wie D. Helder Câmara, Miguel Arraes, Paulo Cavalcanti, Armando Souto Maior und Familie Barbosa wieder.
Im Juni 1995 unternahm ich im Auftrag von FIDENE / UNIJUÍ zusammen mit dem Rektor der UNIJUÍ, Dr. Walter Frantz, der als ÖSW-Stipendiat in Münster promoviert hatte, eine Reise, die uns zu den Universitäten von Birmingham, Umea, Stockholm über Helsinki nach Moskau, Kazan und St. Petersburg führte.
Im November 1995 reiste ich mitmeiner Frau Ilse über Paris nach Ijuí / RGS, wohin unsere Kinder aus Olinda-Pe inzwischen umgezogen waren. Dort kamen wieder einige akademische Aufgabn auf mich zu, es blieb jedoch genügend Zeit für Ausflüge nach São Borja, wo wir u. a. die Grabstätten von Getúlio Vargas, dessen Sohn Lutéro Vargas und João Goulart besuchten. Auf der serra besuchten wir die altvertrauten Städte Santo. Angelo, Cruz Alta und Panambi nach vielen Jahren wieder. Von São Leopoldo aus, wo wir uns der Gastfreundschaft unserer alten Freunden Dr. Joachim und Ingrid Fischer erfreuten, konnten wir auch einen Abstecher nach Dois Irmãos machen und außerdem in Porto Alegre liebe Freunde treffen, u. a. bemerkenswerterweise, vor dem Abflug nach Rio, den einstigen Flüchtlingsstipendiaten Jaime Rodrigues, Architekt im Dienste der Prefeitura de Porto Alegre.
Im Januar 2000 trat ich eine Reise an, die mich über Brasilien auch nach Argentinien und Paraguay führte. In Buenos Aires hielt ich mich vom 22.- 26., in Asunción vom 26.- 30. Januar auf. Anschließend ging es über Rio nach Recife, wo ich zu meiner Freude am 12. Februar in der Igreja de Casa Forte die Taufe unserer Enkeltochter Tainá vornehmen konnte. Padre Edwaldo, ein Verehrer D. Hélders, hatte mir - grandeza pernambucana ! - freundlicherweise seine Kirche für eine lutherische Taufe zur Verfügung gestellt. Als Text meiner Ansprache hatte ich das Psalmwort ausgewählt: „Graças te dou, visto que por modo assombrosamente maravilhoso me formaste; as tuas obras são admiráveis, e a minha alma o sabe muito bem." (Salmo 139/14) Über Lissabon (16.2.2000) ging es aus den trópicos zurück in den inverno alemão.
2001 unternahm ich erneut eine Reise nach Südamerika, vor allem, um vertiefte Studien im Blick auf die Herausgabe meines Buches BRASILIEN 500x zu betreiben, insbesondere zum Kapitel cultura negra incl. Candomblé.
In Recife konnte ich an dem feierlichen Akt aus Anlass des 40. Jubiläums des Instituto de Filosofia der UFPE teilnehmen. Die ehrenvolle Erwähnung meines Namens und Bezuges zum Dep. de História durch den Rektor war keine geringe Überraschung und eine Genugtuung. Im Jahre 1972 hatte ich die Ehre gehabt, den ersten Kontakt zwischen dem Ökumenischen Studienwerk Bochum und der Abteilung für Geschichte an der Bundesuniversität von Pernambuco herzustellen. Umso größer war denn auch die Freude, zur Eröffnung eines Postgraduierungskurses der UFPE für evangelische Theologen mit einer Einführungsvorlesung eingeladen zu werden. Das Thema der Vorlesung lautete: Porque a História é tão importante para um pastor? Warum ist Geschichte für einen Pfarrer so wichtig? In Rio / Niterói wurde ich dann eingeladen bei einem Colloquium des Instituto de Física da UFF Niterói - RJ, über das Thema Naturwissenschaft und christlicher Glaube zu sprechen, ein durchaus aktuelles Thema angesichts des anachronistischen Kreationismus aus Kansas /USA, einer neuen species religiösen Fundalmentalismus innerhalb des Christentums.
Als ich Pater Lucas, den Prior des Convento dos Franciscanos, Salvador/Bahia, aufsuchte, überraschte mich dieser mit der Bemerkung, er habe gerade Besuch aus Bielefeld. Es handelte sich um den Kanzler der Universität Bielefeld, Prof. Firnhaber und dessen Begleiter, Prof. Augel, ebenfalls aus Bielefeld. Wir hatten uns seit Jahren nicht mehr gesehen. Auf meiner Reise vom Nordosten bis zur Guanabara begegnete ich mehreren „Nürnbergern", z.B. Dr. Luís de Nascimento, Dr. Ana Maria Barros dos Santos, Dr. Dacier Barros, Dr. Gláucia Villas Boas, incl. die Studentin Diana Tomimura aus Niterói, die im Jahr zuvor eine Weile im Studentenwohnheim Hl. Geist der ESG Nürnberg gewohnt hatte.
Während meiner Reise traf ich mit einigen Politikern zusammen, unter ihnen mit dem früheren Gouverneur Miguel Arraes, mit Janeide, Diretoria Regional do Movimento dos Trabalhadores Rurais Sem Terra (MST) in Caruaru, mit Ofélia Cavalcanti, der Witwe des früheren Mitglieds des CC do PCB, Dr. Paulo Cavalcanti, Autor der Chronik „O caso eu conto como o caso foi", mit der Vicegouverneurin des Staates Rio de Janeiro, Benedita da Silva, sowie mit meinem ehemaligen riograndenser Gouverneur, Leonel Brizola, da seit dem movimento de legalidade, das er nach dem Rücktritt des Präsidenten Janio Quadros, den das Volk Tanakaraquefugíu taufte, angestoßen und angeführt hatte, gerade 40 Jahrevergangen waren. Im Gespräch kamen wir auf meinen Kollegen Norberto Schwantesm der in ato Grosso den seither vielgenannten Häuptling der Índios Juruna entdeckt hatte. Dieser chefe da nação Namunkurá sollte an einer großen Versammlung des PDT im Staat Guanabara teilnehmen, es gab allerdings ein paar Hindernisse. Brizola begann zu erzählen: Juruna rief an und sagte: Ich habe da ein Problem! Brizola nahm an, es handle sich um Geld und fragte, um welches Problem es sich denn handle. Darauf Juruna: Ich habe vier Frauen, aber so kann ich keine Politik machen. Was soll ich also tun? Brizola erwiderte: Schick drei davon weg und bleib bei einer! Doch ein paar Tage später rief Juruna erneut an und sprach von einem Problem. Um welches neue Problem es sich wohl handle, erkundigte sich Brizola. Ich habe eine weiße Frau, und die will ich heiraten, erklärte der Häuptling. Brizola entgegnete: Dann schick alle vier Frauen weg! Darauf wandte er sich an meinen, im Hintergrund wartenden, Kollegen Schwantes, von dessen Telefon aus Juruna gesprochen hatte und sagte: Sie sind doch einverstanden, Pastor?! Und sein amigo Norberto pflichtete ihm bei. - Was die Vize-Gouverneurin anging, mit der ich verabredet war, bemerkte Brizola: Die gute Benedita ist auch nicht mehr das arme kleine Mädchen aus der favela; sie hat sich gründlich geändert. Heute trägt sie Schuhe mit hohen Absätzen! - Als ich mich verabschiedete, bemerkte der leader des PDT: Ich hatte einen großen deutschen Freund: Willy Brandt! Zum Schluß überraschte mich dieser Polyglott Brizola, der einst in einer protestantischen Schule von Carazinho-RS sogar Deutsch gelernt hatte, mit der pfiffigen Bemerkung: In Nürnberg gibt es eine ausgezeichnete Spezialität: salsichas muito gostosas - sehre schmackhafte Würstchen!
Über 30 Jahre vor diesem Brasilienaufenthalt, seinerzeit hatte ich eine Pfarrstelle in Frankfurt/M inne, nahmen wir in unsere Wohnung einen exilierten Brasilianer auf, einen Journalisten der Tribuna de Imprensa (oder Tribuna da Encrenca, wie das streitbare Blatt Lacerdas von manchen Leuten auch genannt wurde). Just während meines Aufenthalts in Bahia hörte ich von dem bedenklichen Gesundheitszustand dieses brasilianischen Freundes, der um seiner persönlichen Sicherheit willen vor Jahren die deutsche Staatsangehörigkeit angenommen hatte. Ich suchte ein Telefon und sprach mit dem kranken Freund in Frankfurt. Der bat mich, seine in Rio wohnende Schwester anzurufen. Es war diese, die mich an eine Broschüre erinnerte, die ich 1996 aus Anlass des 65. Geburtstages des exilierten Journalisten zusammengestellt hatte - ein historisches Dokument eines turbulenten persönlichen, beruflichen und politisch Lebens. Dann sprachen wir von den alten Zeiten und vom renommierten Herausgeber der Tribuna, Hélio Fernandes, der auch Beiträge aus meiner Feder, Kommentare und ein Interview, abgedruckt hatte, das Jorge França mit mir gemacht hatte. Zu meiner Genugtuung war inzwischen Hélinho, der Sohn des tapferen Kämpfers Fernandes, als Journalist in die Fußstapfen seines Vaters getreten. Nach den Ereignissen des 11. September in New York kritisierte er o terrorismo dos terroristas e o terrorismo da televisão, den Terrorismus der Terroristen und den Terroristen des Fernsehens, wobei er sich mit einem unübertrefflichen Sarkasmus auf das Benehmen eines terrorista da Globo, perdão, artista da Globo - auf einen Terroristen des Senders Globo, Verzeihung, auf einen Artisten des Senders Globo - bezog.
Da ich gerade von terrorismo spreche, möchte ich auch die bemerkenswerte Wandlung eines brasilianischen „Terrosisten" aus den Jahren 1968/70 erwähnen. Er war seinerzeit Angehöriger einer der Gruppen, auf deren Konto die Entführung der Botschafter Elbrick, von Holleben, Okuchi und Giovani Enrico Bucher geht. Unter den 70 politischen Gefangenen, die gegen einen entführten Botschafter ausgetauscht wurden, befanden sich in erster Linie Militante der Vanguárdia Popular Revolucionária (VPR) Colina, des VAR-Palmares, der ALN, von MR-8, MAR und M3G , hedoch auch Funktionäre der Bundesuniversität von Minas Gerais (UFMG) - wie z.B. Maria Auxiliadora Barcellos-Lara und Guarany, seit 1970 in Haft, sowie der Dominicanermönch Tito de Alencar, der sich später in Paris das Leben genommen hat. Die erste Etappe der ausgetauschten Gefangenen war Allendes Chile. Em Februar 1974 nahm das Ökumenische Studienwerk Bochum Maria Auxiliadora und Reinaldo Guarany als Stipendiaten in das Flüchtlingsprogramm auf. Dora nahm sich später in Berlin das Leben. Nach 28 Jahren berichtete mir Guarany, daß er schließlich die Politik mit der Malerei getauscht habe. Er machte mir ein Gemälde zum Geschenk, um quadro diferente, ein völlig anderes Bild, wie er betonte, in der Tat völlig unterschieden von dem, was 30 Jahre zuvor sein Bild der Welt gewesen war. Guarany suchte mich in Niterói auf, wo er mir zusätzlich zu seinem Gemälde eine Diskette mit dem Text eines Manifesto Askatchauam übereignete. Am Tag zuvor hatte er mir gestanden, er habe 1974 zu seiner Gefährtin gesagt: O Dressel está sendo pago pelo CIA - Dressel wird vom CIA bezahlt - , worauf er fortfuhr: Heute tut es mir Leid, daß ich Ihnen nicht gebührend für alles, was Sie uns getan haben, gedankt habe. In der Zwischenzeit haben wir erkannt, fuhr er fort, daß die brasilianische Linke dem Faschismus sehr nahe war. Ich bin heute eine völlig andere Person. 1968 war es der Kubaner, der uns sagte, was wir zu tun hätten. Heute lebe ich von Übersetzungen und von der Malerei. Ich habe die Politik gelassen und widme mich der Ästhetik. Heute schätze und verteidige ich meine Bücher nicht mehr; die Veröffentlichung der Fuga war mehr eine Sache der Psychologie. Was mir blieb, war den Menschen wegen seines historischen Misstrauens zu trösten: Wir alle bereuen tausend Dinge, die wir im Laufe unseres Lebens getan oder zu tun unterlassen haben. Und zu jener Zeit misstraute jeder jedem, es war ein Klima beträchtlcher Hysterie." In Guarany Simões‘ Manifesto Askatchauam findet sich der Satz: Já vi inúmeras teorias afundarem-se diante de fatos, porém jamais vi fatos se afundarem perante uma teoria (Francisco Severi). Ich vermag dem zuzustimmen, obgleich ich mit einer gewissen Reserve die Bemerkung lese, mit der mein Freund Guarany die fusao entre ciência, arte e religião, com a ciência e a religião se submetendo à superioridade da arte. (pg 112), also die Fusion von Wissenschaft, Kunst und Religion, wobei Wissenschaft und Religion sich der Überlegenheit der Kunst unterzuordnen haben, fordert.
Ende Juli 2003 trat ich zusammen mit unserer Wittener Enkelin Anna, die grade ihr glücklich bestandenes Abitur hinter sich hatte, eine Brasilienreise an, die es uns ermöglichte, den 50. Geburtstag ihres Vaters in Ijuí-RS im August mit ihm nachzufeiern. Die Reise war so angelegt, daß wir zunächst das tropische Brasilien ansteuerten, um in Recife und anschließend in Salvador da Bahia Freunde zu treffen. Am 7. August hatte ich das Vergnügen, einen Magisterkurs der Bundesuniversität von Pernambuco (UFPE) für evangelische Pastoren über Gegenwartsgeschichte, den ich zwei Jahre zuvor mit einer Gastvorlesung zu eröffnen die Ehre gehabt hatte, mit einer Abschlussvorlesung zu beenden. In meiner Vorlesung versuchte ich den Studenten die Wechselwirkung zwischen Geschichte und Theologie und umgekehrt deutlich zu machen (A reciprocidade entre a História e o Conceito Teológico e vice-versa).
In Salvador da Bahia waren wir Gäste des Convento de São Francisco, wo wir am Ankunftstag in einem beeindruckenden Refektorium am Mittagsmahl der Klostergemeinschaft teilnahmen. Danach zogen wir es aus praktischen Gründen vor, für unsere Verpflegung selbst zu sorgen. Auf dem Pelourinho und am Carmo gab es genug zu sehen, darüber hinaus besuchte ich mit Anna das Marinemuseum im Forte do Farol und schaute mich selbst in der Fundação Gregorio Matos etwas um. Anna war vom Atelier meiner Maler-Freundin Lena de Bahia sichtlich beeindruckt und freute sich auch über die tägliche Begegnung mit den baianas in ihrer kolonialen Mode auf dem Terreiro de Jesus und der Praça Anchieta.
Im Kloster selbst waren die Begegnungen und Gespräche mit meinen amigos Frei Estanislau, Frei Hugo und Pe. Alfons, dem Custos, sowie mit dem Besucher aus Deutschland, Prof. Dr. Claus Narowski besonders eindrucksvoll und anregend. Zwischendurch würzten auch ein paar hübsche Anekdoten unsere Unterhaltung, z.B. die Episode von den drei Ordensleuten, einem Jesuiten, einem Dominikaner und einem Franziskaner, die gemeinsam durch die Wüste wanderten, als plötzlich ein Löwe brüllend auf sie zukam. Der Franziskaner, von großer Angst ergriffen, wandte sich an den Jesuiten und beschwor ihn: „Du bist der Klügste unter uns und hast gelernt zu argumentieren; Du musst mit dem Löwen sprechen, damit er uns verschone!" Der Jesuit hielt eine geschliffene akademische Rede, doch als er damit fertig war, riss der Löwe den Rachen auf und verschlang ihn erbarmungslos. Da wandte sich der Franziskaner an den Dominikaner und sagte: „Ihr Dominikaner seid als feurige Missionsprediger bekannt. Ihr redet nicht so hochwissenschaftlich daher wie die Leute von der Gesellschaft Jesu, vielmehr versteht Ihr es, dem Volk aufs Maul zu schauen und die Sprache der einfachen Leute zu reden. Bitte, sprich Du zu dem Löwen, daß er uns verschone!" So fing der Dominikaner an, wie bei einem Missionskreuzzug zu predigen, doch als er damit fertig war, fraß der Löwe auch ihn. Da näherte sich ihm der arme, vor Angst zitternde Franziskaner und flüsterte ihm ganz leise etwas ins Ohr, worauf der Löwe sich umdrehte und davon lief. Ein Beduine hatte das Ganze von einem Felsen herab mit angesehen und wunderte sich sehr über den Ausgang der Geschichte. Da kam er herbei und fragte den Franziskaner neugierig: „Was hast Du dem Löwen gesagt, daß er von Dir abließ und davon lief?" Der Franziskaner antwortete: „Ich habe ihm gesagt: Wenn Du mich fressen wirst, musst Du zur Strafe ins Kloster eintreten, und zwar na Ordem Terceira dos Franciscanos!"
Am 16. August reisten wir weiter nach Rio de Janeiro. Dort empfingen uns Joselita, Irani, Raimundo und Pedro, meine Freunde aus Nova Iguassu, der frühere Stipendiat P. Dr. Luiz Longuini Neto, die „Berliner Freunde" Prof. Dr. Luis Morais und Luciana Mendanha, und rechtzeitig kam auch noch unsere „netinha carioca", Diana Tomimura, dazu, in deren Hause Anna und ich am folgenden Sonntagmittag zu Gast waren. Untergebracht waren wir bei Prof. Dr. Glaucia Villas Boas in Laranjeiras, ebenfalls eine einstige „Nürnbergerin".
Am Abend des 18. August hielt ich im Seminário Batista von Rio de Janeiro die erbetene Vorlesung über den Nationalsozialismus, die Haltung der Kirche und die Bedeutung der Theologie Dietrich Bonhoeffers - A Alemanha Nazista, a Igreja Confessante, o papel teologíco de Dietrich Bonhoeffer. Am folgenden Abend wiederholte ich die Vorlesung in der Universidade Metodista von Rio de Janeiro.
Über Porto Alegre, wo wir bei Dr. Marcos Albertin und seiner Frau Cátia dowie mit den beiden Kindern Larissa und Yan zu Gast waren - mit Besuchen von Freunden in meiner alten Gemeinde Dois Irmãos und in São Leopoldo - ging es dann auf die serra. Am 28. August holte uns Ulrich mit einem Wagen der UNIJUÍ ab. Er hatte sein Töchterchen Tainá mitgebracht, damit sie ihre große Schwester aus Deutschland so schnell wie möglich kennen lernen konnte!
Am 4. September wurde mir gemäß eines Beschlusses des Conselho Universitário vom 14/8/03 von der Rektorin der UNIJUÍ (Universidade Regional do Noroeste do Estado do Rio Grande do Sul), Prof. Eronita Silva Barcelos im Rahmen einer feierlichen akademischen Zeremonie unter Hinweis auf den substantiellen Beitrag des ÖSW Im Zusammenhang mit der erforderlichen Qualifikation des Lehrkörpers der einstigen - von der Stiftung für Integration, Entwicklung und Ausbildung des Nordwestens von Rio Grande do Sul / FIDENE getragenen - Hochschule in Ijuí, sowie in Würdigung meines Engagements im Kontext der Menschenrechtsarbeit, und auch in Anerkennung meines literarischen Schaffens in Bezug auf Lateinamerika, insbesondere auf Brasilien, der Titel „Professor honoris causa" verliehen.
Enkelin Anna für einige Tage unter der Obhut ihres Vaters in Ijui zurück lassend, begab ich mich am letzten Sonntag vor unserem Heimflug auf einen Abstecher nach Paraguay. Innerhalb von lediglich zwei Tagen schaffte ich es, mich sowohl mit meinen Freunden Dr. Juan Felix Bogado Gondra und Katia als auch mit Lic. Lino Trinidad Sanabra, einem Kenner der Guaranikultur und -sprache, und dazu noch mit dem Chef der Ethnologischen Abteilung der Universidad Catolica zu treffen. Es gelang mir ebenfalls, die von mir gesuchten Bücher zum Paraguaykrieg, zur Geschichte und Kultur der Guaranies und zur Aktualität der Republik ausfindig zu machen und zu erstehen.
Eine ad hoc notwendig gewordene Darmoperation im September 2005 zwang mich, eine für Oktober / November geplante Reise nach Brasilien und Paraguay zu verschieben. Sie wurde im Februar / März 2006 nachgeholt.
Am 2.2. mit TAP gegen Mitternacht in Recife angekommen und von zwei früheren Stipendiatinnen empfangen und zum Hotel gebracht, wurde ich nach dem Frühstück sogleich zur Bundesuniversität von Pernambuco (UFPE) abgeholt, wo ich vor den Historikern aus aktuellem Anlass eine Vorlesung über die Ursprünge des Nationalsozialismus, die Haltung der Kirchen dazu und über Dietrich Bonhoeffer zu halten hatte. Zuerst jedoch erfolgte zu meiner Überraschung wieder einmal eine akademische Ehrung und ich erhielt nach feierlicher Einführung durch den früheren Chef der Abteilung für Geschichte eine „Plakette" aus hellem Marmor mit einer freundlichen Widmung für die dreissigjährige Assistenz bei der Ausbildung des Lehrkörpers. Den schweren Stein, den ich nicht - wie viele Bücher, die ich während der Reise erhielt und kaufte - per Post nach Hause schicken konnte, musste ich dann über Paraguay bis Südbrasilien und dann wieder nach Rio bis Frankfurt und Nürnberg in meinem Handgepäck herumschleppen. Im Spaß habe ich den amigos immer gesagt, ich trüge - wegen der lieben Widmung - bereits die Hälfte meines Grabsteins mit mir herum.
Am Abend vor dem Weiterflug nach Natal-Rio Grande do Norte, hatte ich auf Einladung der Pernambukanischen Vereinigung Plastischer Künstler noch einen Vortrag vor Malern und Poeten in der nagelneuen Buchhandlung Saraiva zu halten. Dort sprach ich über die Ausbreitung der luso-tropischen Zivilisation in der Welt, also auch in Ostasien und Afrika. In Natal besuchte ich eine Soziologin, die ich aus Nürnberg kannte, und die mir beim Wechsel von Bochum hierher viel geholfen hatte. Die nächste Station war der Besuch bei Marcos und Cátia Albertin, früheren Studenten des ÖSW-Sprachkurses, in Fortaleza, wo ich erneut eine Vorlesung - Bundesuniversität von Ceará (UFCE) - zu halten hatte: Die Europäisierung der Welt durch die Portugiesen. Für die Brasilianer war es neu zu erfahren, dass die portugiesische Sprache auch deutliche Spuren z.B. im Indonesischen hinterlassen hat etc. In Salvador, der nächsten Station, fand ich meinen Franziskaner-Freund nicht im Kloster, sondern in der Intensivstation eines Krankenhauses vor. Ein paar Wochen später erhielt ich die Todesnachricht.
In Asunción sammelte ich vor allem Material zu den Themenkomplexen Mythologie der Guaranies und der Geschichte des Landes im 19. Jahrhundert. Daneben führte ich (23. 2.) ein Interview mit dem Vorsitzenden der Menschenrechtskommission (Comision de Verdad y Justicia Paraguay), dem Ex-Senator der Liberal-Radikalen Partei Juan Manuel Benitez Florentin. Und ich traf mich mit den Töchtern eines Ex-Stipendiaten, den ich seinerzeit aus dem Gefängnis Alfred Strössners herausgeholt hatte. Der Ex-Gefangene ist Arzt und Politiker, der sich z. Zt. in Deutschland befindet (um Geld für die nächste campanha zu verdienen), während die Töchter das Haus in Paraguay hüten. Ich kannte sie als kleine Mädchen und es war schön, sie jetzt als junge Damen wiederzusehen. In Asunción erhielt ich sogar Besuch aus Buenos Aires. Eine frühere Stipendiatin, die nachdem sie eine vierjährige Haft als politische Gefangene in Argentinien durchgestanden hatte, als ÖSE-Stipendiatin in Paris studierte, nahm eine 18-stündige Omnibusreise auf sich, um mich zu treffen.
Über São Paulo kam ich nach Rio Grande do Sul, wo unser Ältester mit seiner pernambukanischen Ex-Frau Vera, ihrer gemeinsamen Tochter Tainá und dem Halbschwesterchen Tamara mich erwartete. Auch diesmal hatte ich auf dem Campus von Ijuí sowie auf zwei weiteren Campi - Tres Passos und Santa Rosa - wieder Vorlesungen übernommen. In dieser Gegend hatte ich in den 50er Jahren gewirkt. In Tres Passos z.B. hatte ich immer Radiogottedienste gehalten. In Santa Rosa holte ich mein erstes Vehikel (Baujahr 1929) aus der Werkstatt ab.In Porto Alegre und danach in Rio besuchte ich renommierte Menschenrechts-Organisationen, und den Exekutivsekretär einer - NGO Sozialprojekte der Lutherischen Kirche Norwegens - Projetos Sociais Igreja Luterana de Norwega, unseren einstigen Flüchtlingsstipendiaten Samuel Arão Reis. Vor allem jedoch ging es mir darum. mich bei den einschlägigen Institutionen und Organisationen über die viel diskutierte Frage der Offenlegung der entsprechenden Archive der vergangenen Militärregierungen zu informieren. Am 17. 3.06 interviewte ich mit Suzana Keniger Lisboa, Menschenrechtskommission des Landesparlaments von Rio Grande do Sul - CCDH (Comissão de Cidadania e Direitos Humanos da Assembléia Legislativa do Estado do Rio Grande do Sul) Porto Alegre zur Frage der Öffnung der Archive der Militärdiktatur. Am 20. 3.06 nahm ich an einer Arbeitssitzung des Grupo Tortura Nunca Mais in Rio de Janeiro teil und interview mit deren Vorsitzenden, Elisabeth Silveira.
Am 25.3.06 übergab ich in Rio der Senatorin Benedita da Silva (PT) - Benedita da Silva-Foundation - mein Buch BRASILIEN 500x, auf dessen Umschlag sich ihr Konterfei befindet und in dem sie mit einem Interview auch im Text repräsentativ vertreten ist. Sie bot mir an, das Buch in ihrer amerikanischen Foundation in englischer Sprache herauszubringen und interessierte sich auch für eine portugiesische Fassung. Ich bin von dieser Idee wenig begeistert. Ich denke, Bücher haben ihre Zeit und ihren Ort.
In Rio bildete den Abschluss meiner Reise eine weitere akademische Verpflichtung in der Universidade Federal Rural do Rio de Janeiro (UFRRJ), einer wunderschönen, unter Getulio Vargas in den 40er Jahren des letzten Jahrhunderts erbauten Universität. Die Studenten kommen aus dem Umfeld von Rio, wo sich einst die großen Fazendas mit Zehntausenden von Negersklaven befanden. Die jungen Leute stammen praktisch alle aus diesem afro-brasilianischen Milieu und es machte mir große Freude, gerade mit diesem Teil der Bevölkerung einmal in diesem Kontext zusammen zu treffen und zu arbeiten. Die jungen Leute haben sehr engagiert verfolgt, was ich ihnen über die Hitlerdiktatur und die zweifelhafte Haltung weiter Teile der Kirche zu vermitteln versuchte. So bin ich dankbar, dass ich - trotz der Strapazen, die dies für mich auch bedeutete (Ich hatte auf der Reise 8 kg an Gewicht verloren) - mein akademisches Engagement auf diese Weise beenden konnte, denn ich habe mir vorgenommen: Jetzt gehe ich endgültig in den Ruhestand !! In Brasilien galt ich diesmal sowieso - ohne Vorlage eines Ausweises - juristisch als „idoso", so dass ich z.B. im Omnibus keine Passage zu bezahlen brauchte und gratis mit der Barke über die Guanabara-Bucht von Niterói nach Rio übersetzen konnte, etc. Da wurde mir klar: Du b i s t jetzt wirklich ein Alter! (Und ich spüre es nach der Operation vom September auch physisch.)
Doch scheint es mit der aposentadoria nichts werdenn zu wollen, denn inzwischen kam die Idee auf, ich solle auf Betreiben des Außenministeriums von Argentinien und der Botschsaften Chiles und Brasiliens bei einer gemeinschaftlichen Veranstaltung in Buenos Aires über die Zeit des Exils sprechen. Wenn nur die deutsche Botschaft in Buenos Aires nicht auch an der Geschichte beteiligt gewesen wäre (und sich durch ihr Verhalten in den Jahren 1976 sq. nicht in heute unbegreiflicher Weise kompromittiert hätte)!!
Es wurde immer klarer, daß ein Stück ÖSW-Geschichte mich nach drei Jahrzehnten eingeholt hatte. Im Januar 2007 erhielt ich einen von vielen argentinischen und einigen chilenischen „Flüchtlingsstipendiaten" unterzeichneten Brief, in dem diese u. a. berichteten: „Nach und nach fanden wir uns wieder und die Liste der Email-Adressen wuchs und wuchs. Da wo möglich, haben wir uns bereits mehrere Male getroffen. Diese Treffen waren sehr nett, voller Verbundenheit und vielen, vielen Erinnerungen an unser Zusammenleben in Bochum, dem wir in gewisser Weise den Charakter eines Familienlebens gegeben haben. Wie in so vielen Familien gab es Freude und Traurigkeit, Solidarität, Probleme, Konflikte, Zuneigung, Streitigkeiten, Versöhnungen, Übereinstimmungen, Meinungsverschiedenheiten, Verstehen, Missverstehen, Kommunikation, Schweigen, Gesellschaft und Einsamkeit. Irgendwie waren wir eine Großfamilie besonderer Art mit vielen Gesichtern, bei der Sie die alles andere als leichte Vater-Rolle übernahmen... Zweck unserer Aktivitäten ist es, dem "Exil" einen adäquaten Platz in der neueren Geschichte zu geben."
War dieser Brief für uns beide eine große Freude, so blieb ich bei dem bald folgenden Brief des colectivo fast sprachlos vor Überraschung: „Wir möchten Sie davon in Kenntnis setzen, dass uns die deutsche Botschaft in Argentinien – angeregt durch unsere Initiative – mitgeteilt hat, dass sie beabsichtigt, für Sie in Deutschland eine Ehrung als Anerkennung für Ihre wertvolle und wichtige Leistung zu organisieren. Diese Veranstaltung soll im Rahmen der Feierlichkeiten zum 150zigsten Jahrestag der bilateralen Beziehungen zwischen den beiden Ländern (1857 – 2007) stattfinden. Darüber hinaus möchten wir Ihnen mitteilen, dass schon Kontakte mit dem argentinischen Außenministerium aufgenommen wurden. Es ist gerne bereit, eine Veranstaltung zu Ihren Ehren zu organisieren, an der auch die Botschaften von Chile, Deutschland und Brasilien teilnehmen würden. Mit letzteren wurden ebenfalls bereits Gespräche geführt."

Ehrungen: Argentinien, Chile, Brasilien, Paraguay

Über drei Jahrzehnte nach dem Putsch der argentinischen Armee, der dem Putsch Pinochets in Chile (1973) und dem „golpe" der Militärs in Brasilien (1964) folgte, am 7. August 2007 wurde ich in meiner Eigenschaft als Pfarrer aus der Evangelischen Kirche in Deutschland und früherer Leiter des Stipendienprogramms des Oekumenischen Studienwerks Bochum e. V. von den Regierungen Argentiniens und Chiles sowie - am 3. September 2007 - vom Gouverneur des Staates São Paulo wegen meines Einsatzes für die Menschenrechte und meines solidarischen Engagements zugunsten zahlreicher politisch Verfolgter des Subkontinents geehrt. In Paraguay fand am 17. August 2007 im MUSEO DE LAS MEMORIAS, einem früheren Folterzentrum, ein Akt der Anerkennung durch die Vertreter des oekumenischen Menschenrechtskomitees - Comité de Iglesias - sowie der MESA MEMORIA HISTORICA statt. Als er mir die Secretária Ejecutiva des ökumenischen Comité de Iglesias für Menschenrechte, Cristina Vila Caceres, bei einem Akt der homenaje eine eindrucksvolle Urkunde - Testemonio de Memória - überreichte, sagte der Dichter Dr. Martín Almada, selbst Opfer der Diktatur Stroessners, man habe diesen Weg der Ehrung vorgenommen, weil die Regierung von Paraguay nicht das moralische Recht besitze, eine condecoración für Menschenrechtsarbeit zu verleihen. Umso kostbare ist für mich die Urkunde, die ich aus der Hand ehemaliger Opfer der Diktatur Stroessners, zu denen auch mein Freund, der Linguist Lic. Lino Trinid Sanabria, zählte, empfangen habe.
Ich hätte nicht gedacht, dass die damalige Politik des Oekumenischen Studienwerks Bochum, Stipendien zum Schutz politisch Verfolgter einzusetzen, eine derartig langfristige Auswirkung haben würde, wie ich sie dreißig Jahre später in Argentinien, Chile, Paraguay und Brasilien erfahren durfte.
In der Erinnerung an den während der 70er Jahre in ihren Ländern herrschenden unberechenbaren Staatsterror bewerten viele der Betroffenen die seinerzeit von uns geleistete humanitären Hilfe per Gewährung von Stipendien als eine lebensrettende Massnahme, ohne die sie - und in manchen Fällen auch ihre Kinder - jene furchtbare Zeit nicht hätten überleben können.
Der Respekt vor der in jenen Jahren erfahrenen bedingungslosen Hilfeleistung für Bedrohte und Gefaehrdete - ohne Ansehen der Person - durch von der EKD entsandte evangelische Pfarrer ist besonders in Chile gross, wo man in Anerkennung seines humanitären Engagements P. Helmut Frenz kürzlich die Ehrenbuergerschaft verliehen hat.
Aehnliches gilt auch für Paraguay, wo P. Armin Ihle, heute Pfarrer in Montevideo, in Anerkennung seines mutigen humanitären Einsatzes die Ehrenbürgerschaft verliehen wurde.
Argentinien hat die Aktivitäten des Oekumenischen Studienwerks in guter und dankbarer Erinnerung, umso mehr, als die Erfahrungen mit der einheimischen (r.-kath.) Amtskirche während der Militärdiktatur eher bedrückend waren. In seiner Rede beim Akt der Ehrung erinnerte der argentinische Außenminister Jorge Enrique Taiana daran, dass die Solidaritaet des Auslands seinerzeit „gering und verkrampft" gewesen sei. Er beklagte nicht nur die weitgehende Unwissenheit und das Desinteresse der Welt bezüglich der Vorgänge in seinem Land, sondern da und dort sogar die Komplizenschaft mancher Laender mit der Repression. Umso bemerkenswerter sei die Tatsache, dass die Evangelische Kirche in Deutschland angesichts des Terrors in Argentinien nicht einfach zugeschaut habe, sondern bereit gewesen sei, dem Naechsten jenseits des Atlantiks in seiner Not beizustehen.
In Brasilien geniesst die EKD aufgrund ihres humanitären Engagements zur Zeit der Militärdiktatur hohes Ansehen. Der Gouverneur des Staates São Paulo, José Serra, der nach dem Putsch Pinochets als brasilianischer Exilierter 1973/74 - zusammen mit 60 weiteren Asylsuchenden - sechs Monate lang in den Raeumen der italienischen Botschaft von Santiago Schutz gefunden hatte, erklaerte am 3. September 2007 bei einem Staatsakt im Palácio dos Bandeirantes, dass es ihm ohne die Stipendienerklärung des Oekumenischen Studienwerks Bochum damals nicht gelungen wäre, das Land zu verlassen.
Es ist bemerkenswert, dass fast alle während der 70er Jahre im Rahmen des Flüchtlingsprogramms des Oekumenischen Studienwerks - auch in Verbindung mit dem Diakonischen Werk - Gefoerderten heute in ihrem jeweiligen Umfeld sozial und gesellschaftspolitisch engagiert sind.
Dies ist in etwa das Fazit, das ich angesichts der mir zuteil gewordenen homenaje gezogen habe.
Abgesehen von dem bewegenden Wiedersehen mit einstigen Flüchtlingsstipendiaten und ihren Angehörigen sowie mit lieben alten Mitstreitern aus jenen Tagen, allen voran die Kollegen Reinich in Argentinien und Ihle in Uruguay, sowie den Madres der Plaza de Mayo in Buenos Aires und guten Freunden aus dem Widerstand gegen den Stronismus in Asunción oder auch das unverhoffte Wiedersehen mit dem damaligen exilierten Studentenführer José Serra, heute Governador des Staates São Paulo, war es mir eine Freude, die amigos aus der Kirchenleitung der IERP, den Kollegen Carlos Moeller in Brasília, den Rektor der Unijuí-RS und einige meiner dortigen Professorenkollegen, sowie verschiedene Politiker, Historiker und Anthropologen der Universidad Católica in Asunción zu besuchen. Sowohl in Buenos Aires als auch in Asunción, Montevideo, Ijuí, Brasília, Rio de Janeiro und São Paulo kam es auch zur Begegnung mit neuen Freunden. Zu meiner Genugtuung brachte ich auch noch en Interview mit dem mittlerweile 87jährigen früheren Erziehungsminister Brasiliens, Jarbas Passarinho, das ich aus Gruenden der Historiographie auf meine Agenda für die Hauptstadt Brasília gesetzt hatte, mit nach Hause.
Im Kontext der Auszeichnung mit dem brasilianischen Verdienstorden Rio Branco, die am 29, Apri 2008, dem „Tag des Diplomaten", im Festsaal des Itamaraty, in Anwesenheit des Präsidenten der Republik, Lula da Silva, stattfand, erinnerte ich mich intensiv der Ereignisse vom 31. März und vom 1. April des Jahres 1964, die wenigstens zwei Generationen von Brasilianern ihren Stempel aufgeprägt hatten. Zugleich erinnerte ich mich an das, was vor nunmehr 40 Jahren geschehen war, nämlich an den „Putsch innerhalb des Putsches", bzw. die Verkündung des „Ausnahmegesetzes Nr. 5" - AI-5 - welches die seit April 1964 existierende „Demokratur" in eine grausame Diktatur verwandelt hatte. Zwei Wochen dach der Ehrung in Brasília hatte ich dann Gelegenheit, in Vorlesungen an der riograndenser Regionaluniversität Ijuí- - Unijuí - und au deren campus in Tres Passos in einer Retrospektive auf 20 Jahre Militärdiktatur in Brasilien an besonders einschneidende Ereignisse jener Zeit zu erinnern.
In meiner Funktion als Leiter des ÖSW Bochum, einer Einrichtung der Evangelischen Kirche in Deutschland zur Förderung junger Akademiker aus Afrika, Asien und Lateinamerika, wurde ich sehr früh auf die bitteren Erfahrungen aufmerksam, die Tausende von Studenten während der 60er und 70er Jahre seitens der repressiven Regierung in ihrer Heimat hatten erleiden müssen. „Die Angst, in einen der Folterkeller geworfen zu werden, begleitete meine Generation tagaus, tagein", erinnerte sich einer der von uns aufgenommenen Flüchtlinge.
Es war auf diesem Hintergrund, dass ich in den 70er Jahren das Leitungsgremium des Studienwerks beschwor: "Man kann die Lage der lateinamerikanischen Flüchtlinge nur mit derjenigen der Juden im "Dritten Reich" vergleichen, die ständig in der Furcht leben mußten, von der Polizei oder der SS in ein Todeslager abgeholt zu werden. Die Kirche darf die Vorgänge in den südamerikanischen Ländern nicht ignorieren."
Im Frühjahr 1974 empfingen wir u. a. einen Studenten der Nationalen Universität von Brasília - UnB -, Lúcio Castelo Branco, der entführt. eingekerkert, gefoltert und schliesslich wieder in die "Freiheit" entlassen worden war. Wir nahmen diesen jungen Akademiker auf, da es für ihn in seiner Heimat definitiv weder Sicherheit bezüglich seiner physischen Integrität noch die Möglichkeit, sein Studium fortzusetzen, gegeben hätte. Wir luden ihn zur Teilnahme an einem Sprachkurs in Bochum ein, nach welchem er an der Universität Nürnberg/Erlangen sein Promotionsstudium aufnahm. Seine Geschichte wurde in dem 1985 von der Erzdiözese São Paulo herausgegebenen Band BRASIL: NUNCA MAIS (S. 207) dokumentiert.
1973 - 74, nach dem Putsch in Chile, kamen einige prominente brasilianische Flüchtlinge aus Santiago, wie der frühere Studentenführer José Serra, der unter Allende Schutz gesucht und bei FLASCO, einer Einrichtung der UNO in Santiago, eine Stelle gefunden hatte. Serra, heute Governeur des Staates São Paulo und aussichtsreicher Präsidentschaftskandidat, hatte mit seiner Familie von Oktober 1973 bis Mai 1974 in der Italienischen Botschaft Schutz gefunden. Bereits im November 73 war er im Besitz eines von mir unterzeichneten Schreibens gewesen, in welchem ihm die Hilfe des ÖSW zugesichert worden war. Es gelang ihm jedoch erst im Mai 74, die von Soldaten Pinochets umzingelte Botschaft und zugleich das Land zu verlassen. Auf dem Flughafen in Düsseldorf konnte ich ihn dann empfangen und zum campus des Oekumenischen Studienwerks Bochum geleiten.
Nicht lange nach dem Putsch Pinochets gelangte eine Gruppe "auf Lebenszeit verbannter" Brasilianer, die nun bereits das zweite Exil erlebten, nach Europa. Unter ihnen befand sich Marijane Vieira Lisboa, die Ehefrau des charismatischen Ex-Präsidenten der inzwischen verboteten "Nationalen Studentenunion" - UNE - Luis Travassos (der dann, kaum aus dem Exil in die Heimat zurückgekehrt, 1982 bei einem Verkehrsunfall in Rio de Janeiro ums Leben kam), dazu Samuel Arão Reis, Student der Wirtschaftswissenschaften, mit seiner Frau Irene Reis Loewenstein und dem Töchterchen Tania. Irenes Eltern, deutsche Juden, die 1936 Nazideutschland verlassen und in Brasilien Asyl gefunden hatten, wo 36 Jahre später die Tochter Irene Verfolgung erlitt und in Chile Schutz gefunden hatte, bis sie am Ende in dem Land Hilfe fand, aus dem ihre Eltern vor einer Generation ausgewandert waren, um ihr Leben zu retten. Zur Gruppe der Verbannten gehörten auch der Labortechniker Irany Campos aus Belo Horizonte, Reinaldo Guarany Simões und Maria Auxiliadora Barcelos Lara. Alle zählten sie zu jener "Jugend von 68", die auf die Botschaft vertraut hatte, die sich in dem zum Symbol gewordenen slogan des "Marsches der Hunderttausend" am 26. Juni 1968 niederschlug: "Das organisierte Volk zerschlägt die Diktatur!" Es gab auch andere. die eine wesentlich aggressivere Version dieses Mottos anstimmten und riefen: "Das bewaffnete Volk zerschlägt die Diktatur!" Die Hunderttausend bildeten eine Koalition von Intellektuellen, Künstlern, Priestern, Arbeitern, Studenten und von Eltern dieser Studenten, die alle miteinander das System ablehnten, welches die Militärs eingeführt hatten, jene Militärs, die keine Skrupel gezeigt hatten, selbst so junge und unreife Gegner, wie jenen Gymnasiasten Edson Luis Lima Souto niederzuschiessen, der aus dem fernen Belém do Pará nach Rio de Janeiro gekommen war, um dann bei der Demonstration in der Rua 1° de Março am 28. März 1968 durch Kugeln aus der Maschinenpistole eines Militärpolizisten zu sterben. Gegen jenes Terrorregime protestierten 50.000 Bürger, die sich am folgenden Tag dem Trauermarsch angeschlossen hatten, der sich in das historische Gedächtnis des brasilianischen Volkes eingeprägt hat.
Heute sind wir alle - diejenigen, die in schwierigen Zeiten ihres Lebens Zuflucht und Hilfe gefunden hatten und diejenigen, die den Verfolgten seinerzeit die Hand gereicht hatten - glücklich darüber, dass sich in Brasilien eine demokratische Regierung durchgesetzt hat.
Im Jahre 1972 befand ich mich zum ersten Mal in der neuen Hauptstadt Brasiliens. Ich erinnere mich noch genau daran, wie beim Ankunft des Varig-Fluges auf dem Internationalen Flughafen in Rio de Janeiro ein Offizier des Staatlichen Gesundheitsdienstes die Maschine betrat und damit begann, entlang des Mittelganges Insektengift zu versprühen, um möglicherweise aus Afrika einschleppte Moskitos zu vertilgen. Da erhob ein Fussballer, dessen Mannschaft in Casablanca zugestiegen war, die Stimme und rief fast feierlich: „Agora tudo que não presta está morto!" - Jetzt ist alles, was nichts taugt, tot! Mit dieser provozierenden Bemerkung hatte der Athlet die im Lande herrschende Stimmung exakt auf den Punkt gebracht. Als Besucher der Hauptstadt hatte man stets ein Gefühl der Angst vor der Regierung in der Brust.
Heute, eine Generation danach, ehrt mich die Regierung im Rahmen einer unvergesslichen Zeremonie! Es ist nicht die Regierung von damals - Gott sei Dank - doch es ist die Regierung derselben Nation! Welch ein Wandel!

Ergänzung zur Bibliographie

Das Drama des Exils, Zur Psychologie der lateinamerikanischen Flüchtlinge, Web Site NMRZ
Ensaios Luteranos, Dos primórdios aos tempos atuais do luteranismo no Brasil, org. e apr. Joachim Fischer, Editôra Sinodal, São Leopoldo, 1986, A Igreja Evangélica Face ao Desafio Brasileiro, S. 113 ff.
15 Jahre Landpfarrer in Rio Grande do Sul - Brasilien: Aufbaujahre nach dem 2. Weltkrieg bis zur Bildung der Evangelischen Kirche Lutherischen Bekenntnisses in Brasilien (EKLB); erinnert anhand von Briefen und Aufzeichnungen, FDL-Verlag Augsburg 1998
Mission in Fernost - Auf den Spuren Vasco da Gamas, Privatedition, Nürnberg, 1998
Spanisch-Amerika - Bildungsförderung zwischen Reformation und Revolution, Privatedition, Nürnberg, 1999
Die Ausbreitung einer luso-tropischen Zivilisation bzw. die Europäisierung der Welt durch die Portugiesen, in Erhard Engler / Axel Schönberger (Hrsg.): Studieb zur brasilianischen und portugiesischen Literatur, Frankfurt am Main, Domus Editoria Europaea, 2001, S. 49
BRASILIEN 500 x Entdecker und Entdeckte, Brasilianische Trilogie Indios Negros Landlose, Heinz F. Dressel, FDL-Verlag Augsburg, 2002
A experiência da Obra Ecumênica de Estudo em Bochum com o Programa de Parceria Acadêmica no Brasil, in: Sociologia, Pesquisa e Cooperação, ACHIM SCHRADER - homenagem a um cientista social, Clarissa Eckert Baeta Neves, Emil Albert Sobottka (org.) Porto Alegre 2003, pg. 31ff.
Fé e Cidadania, Heinz F. Dressel, Ijuí, Editora Ijuí, 2006
Brasilien: Die Öffnung der Archive oder das Recht auf Erinnerung, Mai 2007, Web Site NMRZ
Ponencia en la ocasión del acto bi-nacional argentino.chileno de la condecoración en Buenos Aires, Testemonio de la Solidaridad Internacional, Buenos Aires 2007
Einblicke in die Welt der Mythologie des Guaranies, Keingang, Ava-Katu-Ete, Kaiapós, Deni un anderer Indianervölker Südamerikas, Privatedition August 2008
Ein Rückblick auf zwei Jahrzehnte Dikitatur in Brasilien aus derr Perspektive eines kirchlichen Beobachters, mabase verlag Nürnberg 2008
DEUTSCH-ARGENTINISCHE REMINISZENZEN - Argentinische Politik - deutsche Diplomatie zu turbulenten Zeiten, Web-Site NMRZ- Nürnberger Menschenrechtszentrum 2009