Donnerstag, 26. Februar 2009

Die orixás

Während Olorum (Olorun) faktisch im Hintergrund blieb, hatten es die Menschen ohne Unterlass mit rangmäßig niedrigeren Gottheiten und Naturgeistern, einschließlich der Geistwesen, die vor Urzeiten als besonders herausragende und verehrungswürdige Persönlichkeiten verstorben waren und von ihren Stammesgenossen - und dies gilt nicht nur für Afrika, sondern ebenso für Asien, für die Pazifikinseln und für ganz Amerika - seitdem als mythische Helden verehrt wurden. Bei den Fon in Dahomey war die Inkarnation der Geister in „besessene" Männer und Frauen, die den Medizinmännern bei ihrem Geschäft zur Hand gingen, üblich. (Dias,1992:176) "Das wichtigste Element, welches die Bantus von den Sudanesen unterscheidet, ist der besondere Kult der Ahnen. Die Sudanesen fallen in Trance und verkörpern orixás." Mittels des Trance-Zustands - beim Maskentanz - oder der Ekstase, die ja gerade auch im Islam, unter dessen Einfluss sich die „Sudanesen" befanden, eine bedeutende Rolle spielt, vermag der Mensch temporär sein Wesen zu verlassen und ein Wesen des „Draußen" zu werden. Für die außergeschichtlichen Völker hingegen, wie Carl Heinz Ratschow die schriftlosen Gesellschaften ohne historische Erinnerung zu nennen pflegte, für die von magischen Vorstellungen geprägten Bantus war das „mythische Dunkel des Ahnenkomplexes" charakteristisch. (Ratschow, 1947) Heidi Koch hat sehr anschaulich beschrieben, welch außerordentlich wichtige Rolle der Familienzusammenhang über Generationen hinweg bei den Völkern in Tansania spielt. Als ein eindrückliches Beispiel dafür nannte sie die Lebens- oder Familienbäume bzw. Ujamaa-Schnitzereien. „Bei der geschlossenen Schnitzerei stehen die Figuren aufeinander um einen Stamm gruppiert. Dabei handelt es sich um eine symbolische Darstellung der Familiengemeinschaft; Ahnen, Lebende und künftige Generationen." (Koch Zeit für Mission, Magazin Mission, Neuendettelsau 1/2002)

Die „Väter" oder „Patriarchen" - fast möchte man sagen: die „Gründerväter" - spielten beim nation-building der Völker, um es einmal so zu sagen, überall eine große Rolle, gerade auch in der Geschichte Israels: Abraham, Isaak und Jakob. Der vielberufene „Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs" ist ein Familiengott, der höchste Gott einer Stammesreligion. Stammväter, Helden, Könige, Häuptlinge wurden in den unterschiedlichsten Kulturen von ihren Familien, Sippen, Stämmen, Stammesverbänden und Völkern zu allen Zeiten allüberall auf der Welt in besonderer Weise geehrt, und dies weit über den Tod hinaus. Aus der Veneration wurde schrittweise die Divinisierung. Im Candomblé-Kult Brasiliens nehmen noch heute Namen wie Pai Joaquim, Pai Guiné, Pai Velho - die sigenannten pretos velhos, afrikanische Vorfahren , die sich noch in ihrer Heimat einen Namen gemacht hatten - einen hervorragenden Platz ein.

Die Bantu-Stämme pflegen das Andenken der Ahnen auf eine ganz besonderer Art. Die Gestalt des Häuptlings, der oft über mehr als tausend Untertanen geherrscht hatte, war zu seinen Lebzeiten über alle anderen Angehörigen des Stammes herausgehoben gewesen und hatte besonderen Respekt und eine oft fast religiöse Verehrung erfahren; allüberall im ländlichen Afrika ist diese Wirklichkeit bis heute anzutreffen. Man war sich dessen gewiss, dass der verehrte „chief" auch über den Tod hinaus seine besondere Mächtigkeit beibehalten werde. So wurde sein Andenken durch die Nachkommen in religiöser Weise bewahrt und gepflegt. Besonders ausgeprägt ist der Ahnenkult auch bei den Bataks in Nordsumatra, wo man den Verstorbenen noch vor wenigen Jahrzehnten nicht selten wahre Totentempel errichtete.

Ein interessantes Beispiel für die selbstverständliche Beziehung zwischen den Lebenden und den Toten eines westafrikanischen Clans findet sich bei Edward Ball: „In Westafrika glauben die meisten Menschen, dass die Toten über die Lebenden wachen und sie zum Guten oder Schlechten beeinflussen können. Eine weitverbreitete Zeremonie ermöglicht es den Lebenden, mit ihren Ahnen zu sprechen und um ihren Segen oder ihre Vergebung zu bitten. Die Feier beginnt damit, dass ein Trankopfer auf den Boden geschüttet wird, gewöhnlich Rum, worauf Gebete und laute Gespräche mit den Toten folgen. Danach wird eine etwa eine große Kolanuss entzweigebrochen, und die beiden Hälften über den Boden gerollt. Wie die Stücke fallen, verrät etwas darüber, ob eine Bitte erhört wurde. Wenn beide Hälften mit dem Nussfleisch nach oben landen, so wurde das Gebet gnädig aufgenommen. Muslime haben dieses antike Ritual, das dem Islam lange vorausging, adaptiert und benutzen es, um mit dem Allmächtigen in Verbindung zu treten." (Ball, 2001: 495)

Ratschow sprach in treffender Weise vom „mythischen Dunkel des AhnenKomplexes", in welches alles Fragen und Forschen nach dem Ursprung der Religion und alles Nachdenken über die Entstehung der Gottesvorstellung letztlich zurück führt. Er resümiert, dass die Welt des vor- und außergeschichtlichen Menschen erfüllt sei von gottheitlichen Wesen, um dann souverän fortzufahren: „Als erste und allgemeinste Art dieser Gottheiten nenne ich die Toten. Es sind zumal die Toten, die im Kreise des wahren Lebens eine besondere Stellung innehatten, die man verehrt. Der Häuptling hat auch über den Tod hinaus seine besondere Mächtigkeit. Die Bantu-Stämme wie andere pflegen ihr Andenken ..." (Ratschow 1947:69)

Hier sei daran erinnert, dass es heißt, die von den Bantus abstammenden Sklaven seien von bestimmten Familiengeistern „besessen" gewesen, die Namen wie Pai Joaquim, Pai Guiné, Pai Velho (die sogenannten prêtos velhos - alte Schwarze) angenommen hatten. Arthur Ramos berichtet, dass die Bantuneger in der Tat einem authentischen Ahnen- und Geisterkult huldigten. Sie glaubten fest an die Seelenwanderung und an die Verwandlung der Seele sogar in Tiere; daher rührten auch die unter der Bevölkerung so verbreiteten Begräbnisriten und Totenfeiern. Religionsgeschichtlich betrachtet, dürften die Toten die erste und allgemeine Art von Gottheiten der „außergeschichtlichen Kulturen", gewesen sein.
Die Toten der Sippe

Die Archäologin Gabriela Martin von der UFPE in Recife schreibt in ihrem Beitrag „A Morte - O RITO E A VIDA ESPIRITUAL" (Der Tod - Der Ritus und das spirituelle Leben) zum Katalog des Centro Cultural Banco do Brasil São Paulo „ANTES, Histórias da Pré-História": „Zahlreiche in Felsengelassen der serras do Brasil aufgefundene Grabstätten bergen die Überreste von vermutlich langen und komplexen Bestattungszeremonien. Was übrig blieb, waren häufig nur die materiellen Indizien eines uns letztlich verschlossenen Depositums magischer Rituale und religiöser Überzeugungen die vor Jahrtausenden Bestandteil der spirituellen Welt des prä-historischen Menschen gewesen sind. Es vergingen Tausender von Jahren, ehe diese Menschen in der Lage gewesen wären, Pfeil und Bogen zu erfinden, doch seit dem Morgengrauen der prä-historischen Menschheit oder vielleicht zur Zeit der Mitternacht brachte die Furcht vor dem Unbekannten und die Hoffnung auf bessere Tagen die Höhlenmenschen oder auch die Bewohner der Campagne entlang der Ufer eines Flusses dazu, den Schutz ihrer Vorfahren zu erbitten und den Zorn unbekannter, störender und bedrohlicher Geister zu besänftigen. Die primitiven Religionen sind aufs engste mit den Mächten der Natur verbunden, denn das Überleben den Jäger und Sammlern wie auch derer, die das Land bearbeiteten, hing letzten Endes von den Zyklen der Natur ab." (179) „Der mündlichen Überlieferung gemäß wurden einige Felsenhöhlen und Gelasse, die den prä-historischen Menschen als Begräbnisstätten dienten, über Tausende von Jahren gepflegt und immer wieder benutzt. Kaum eines der Gräber war von Gruppen anderer Stämme oder von primitiven Menschen anderer Epochen geplündert oder geschändet worden. Der Respekt vor den Toten, aber sicherlich auch die Angst vor ihnen bewirkten, dass ihre Ruhestätten über Jahrtausende unberührt geblieben waren, selbst vonseiten anderer ethnischer Gruppen oder sogar vonseiten irgendwelcher Feinde - eine Demonstration des Respekts vor den Geistern der Ahnen. Parallel zur Bekundung des Respekts und der Demonstration des Willens, die Toten der Familie zu schützen, stoßen wir auch auf die Furcht vor der Rückkehr der Geister dieser Toten, die nur schreckliche Unruhe in die Welt der Lebenden bringen würde. Tiefe Gräber und mächtige schwere Steinblöcke über den Körpern der Verstorbenen sollten deren Rückkehr in die Welt der Lebenden verhindern. Periodisch zelebrierte, von Gesang und Speiseopfern begleitete Totenrituale unterstreichen ebenfalls den Wunsch der Hinterbliebenen, die Verstorbenen möchten in Ruhe und Frieden in ihren Grabstätten verbleiben." (184)

Eine ursprüngliche Weise des Animismus ist, wie Afrikareisende immer wieder bestätigen, auch in der Gegenwart, und vor allem im Umkreis des zentralafrikanischen Kongobeckens, anzutreffen. So bemerkt Peter Scholl-Latour, ein afrikanischer Lehrer habe ihm gesagt: „Am Kongo sind die Toten mächtiger als die Lebenden. Hier gibt es keine natürlichen Todesursachen, es sei denn bei hochbetagten Greisen. Jeder andere Tod wird auf bösartige Einflüsse, auf Behexung, Verwünschung, Zauberei und Gift zurückgeführt. In jedem Dorf, in jedem Stadtviertel sucht der ‚féticheur‘, der ‘Nganga‘, pausenlos nach einem Schuldigen, nach den unheimlichen Tätern. Die Bevölkerung lebt in Verehrung und Angst vor den Toten. Die Furcht geht um, sie könnten zurückkommen, ihre Verwandten heimsuchen, Spuk und Unheil stiften. Deshalb werden ihnen so viele Abschiedsgeschenke auf das Grab gelegt, vor allem die Schuhe, damit die nicht in die alte Hütte kommen, um sie für ihre Wanderung im düsteren Land der Toten zurückzuholen." „Jeder Tod", so Scholl-Latour, „so bestätigen die Völkerkundler, weitet sich für den Afrikaner zum Psychodrama aus." (Scholl-Latour, 2001: 31) Mein Lehrer Dr. Christian Keyßer, der lange Jahre unter den Papuas von Neu Guinea gearbeitet hatte, ehe er als Missionsinspektor in Neuendettelsau tätig war, berichtete uns Ähnliches von den Eingeborenen im Hubeland. Ehe die Missionare kamen, starb dort niemand eines natürlichen Todes. Stets war es der gefürchtete Todeszauber, der unweigerlich dazu führte, dass jemand starb. Nicht allein die Krankheiten waren Folgen von Zauberei, sondern ebenso die Unglücksfälle. Niemand fiel von einem Baum und starb an den Folgen des Sturzes, weil unter seiner Last unglücklicherweise ein Ast abgebrochen war; vielmehr steckte ein böser Zauber hinter dem Vorfall. Umso wichtiger war es, sich mit einem kräftigen Gegenzauber, z.B. mit einem wirksamen Fetisch, zu schützen.

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