Donnerstag, 26. Februar 2009

Die Geister


Für die Mehrheit der Bantus sind die Geister einfach die Seelen der Verstorbenen. Es gibt jedoch auch solche, die an „Dämonen", wie wir vielleicht sagen würden, glauben, die an bestimmten Orten hausen, an Naturgeister, die dem Menschen Gutes oder Böses zuzufügen vermögen, wie z. B.: die Sterne, bestimmte Gewässer, Quellen, Höhlen, Felsen, Berge, Tiere, Pflanzen sowie gefährliche und flatterhafte Wesen, denen man nicht missfallen darf, wenn sie einem nicht das Leben verbittern sollen. Derartige „Dämonen" oder Naturgeister stehen im direkten Gegensatz zu den Toten, es sei denn, es handle sich um ruhe- und rastlos umher irrende verlorene Seelen, die keinen Zugang zum Totenreich finden, weil sie sich zu Lebzeiten nicht an die Gesetze des Stammes, die Vorschriften der Alten, die Regeln der „Adat", wie die Bataks in Nordsumatra sagen würden, gehalten haben. In Bezug auf ihre Transzendenz sind beide gleich, wogegen ihr Wesen gegensätzlich bestimmt ist. Roger Bastide hatte zwischen „Erscheinungen" (in Bezug auf eguns) und „Manifestationen" (in Bezug auf die orixás) unterschieden; die Grenzen zwischen „Gespenstern" und „Geistern" scheinen mir jedoch fließend zu sein.

Mit dem bis hierher Beschriebenen befinden wir uns in einer Vorstellungswelt, die von den Ethnologen und Religionswissenschaftlern als Animismus bezeichnet wird, also als Glauben an eine Art Allbeseelung (denn neben Menschen, Tieren und organischen Objekten gälten dem Animisten auch anorganische Stoffe als „beseelt"), legte der Missionswissenschaftler Georg Pilhofer dar. Für den Papua sei die ihn umschließende Umwelt mit geheimnisvollen Kräften angefüllt, die für das Gedeihen der Pflanzen, Tiere und Kinder ebenso maßgebend seien wie für das Gelingen eines Vorhabens, des Erfolgs der Arbeit oder des guten Gelingens eines Unternehmens. Entscheidend für Glück oder Unglück sei die adäquate Anwendung des richtigen Zaubers, mittels dessen die geheimnisvollen Kräfte dem Individuum oder auch der Familie und des Clans günstig gestimmt werden könnten. (Pilhofer, 1961: 32) Zu diesen Glück oder Unglück bestimmenden, übernatürlichen Kräften zählen für den „primitiven" Menschen, der nicht wie wir Europäer analytisch-kritisch zu denken pflegt, sondern in Kategorien handelt, die wir als „magisches Denken" bezeichnen, in erster Linie auch bedeutende, bereits verstorbene Personen, z. B. ein besonders weiser und tapferer Häuptling oder dessen Jagd- und Kriegsausrüstung wie Speere und Keulen; aber auch Steinen (die ebenfalls „namenlose Verstorbene" verkörpern können) und Pflanzen mögen derartige übernatürliche Kräfte innewohnen.

Erinnern wir uns: die Götter und Halbgötter der Guaranies sind halb körperlich, halb spirituell, pluriform, jedoch stets materialisiert. Dabei handelt es sich hauptsächlich um Gottheiten der Wildnis, des Wassers, der Liebschaften, der Pflanzen und der Tiere, Man könnte durchaus auch von „ökologischen Gottheiten" sprechen. Das wäre nicht übertrieben, wenn man an die Sitte sogenannter „Wilder" denkt, den Baum, der zu fällen ist, um Verzeihung zu bitten, ehe die Axt angelegt wird.
Die Animisten halten bestimmte Praktiken für notwendig, um die organischen oder anorganischen Elemente freundlich zu stimmen, damit sie den Menschen helfen anstatt ihnen zu schaden. Glück oder Unglück - beides hängt in ihren Augen von diesen spirituellen Kräften ab. Man bedarf ganz bestimmter Rituale, um negative Manifestationen dieser Mächte abzuwehren und sich statt dessen des Wohlwollens der fraglichen Geister zu versichern. Da die Beziehung zu den Geistern vielfältig und äußerst schwierig ist, benötigt man Zauberer und Zauberinnen. Hier setzt dann die Magie als Institution ein.

Bei Egon Schaden (Homem, Cultura e Sociedade no Brasil, Petrópolis 1972, pg. 232 s.), findet sich ein sehr lesenswerter, instruktiver Artikel von Protásio Frikel, Traços da Doutrina Gêge e Nagô, sobre a Crença na Alma. Der von den Afrikanern benutzte Terminus „Seele" könne, erklärt Frikel, unter einem doppelten Aspekt gesehen werden, nämlich als Seele der Lebenden - alma deste mundo - und als Seele der Toten - alma do outro mundo - verstanden werden. Für jemand, der aus der christlichen-jüdisch-muselmanischen Kultur kommt und der mit den respektiven heiligen Schriften - Bibel und Koran - vertraut ist, klingt dies durchaus nicht fremd, vielmehr erscheint ihm die dahinter stehende „dialektische" Logik plausibel. (Die paradoxe - von der Gnosis besonders gepflegte -Vorstellung, dass ein Lebender tot sein kann und ein Toter lebendig, findet sich wiederholt im Neuen Testament: „Lasst die Toten ihre Toten begraben ..."[Mt. 8,22] „Was sucht ihr den Lebendigen bei den Toten?" [Lk. 24,5] „Wer an mich glaubt, wird leben obgleich er stirbt." [Joh. 11,25] „Wer lebt und an mich glaubt, wird nimmermehr sterben." [Joh. 11, 26]).

Auch bei den Hebräern waren die Begriffe „Seele" und „Leben", und dazu noch einige verwandte termini mehr, auswechselbar. Der springende Punkt im afrikanischen Animismus ist die quasi-Austauschbarkeit dieser Begriffe, unabhängig davon, ob sie auf „Lebende" oder auf „Tote" angewendet werden. Êiní ist die Seele bei lebenden Menschen, êcú-ôurum ist die Seele im Leben und im Tode, êcú-ôurum kann die Seele im Leben - êiní - oder auch die Seele eines Verstorbenen sein, dann ist es die Seele im Tode. Im Augenblick des Todes tritt die Seele in die postmortale Existenz, also in eine andere Phase ihrer Daseins ein, sei es, um sich zu einem späteren Zeitpunkt zu inkarnieren, sei es, um als êgum weiter zu existieren. Der Begriff êigum oder êgum wird auf die Geister der Toten angewandt, die sich nach der letzten Inkarnation in Ahnengeister (tataravós) verwandeln. Êgum kann nie êiní sein. Êigum bzw. êgum bezeichnet die Seele derjenigen Toten, die sich niemals mehr inkarnieren werden oder inkarnieren können. Bestenfalls können sie als fantasmas - „Gespenster" - erscheinen.

Im Bereich des Animismus gilt die menschliche Seele als unsterblich. Vom Körper getrennt, vereinigt sie sich mit anderen Seelen, die in Dörfern unter der Erde wohnen. Es gibt gute und böse Lebende und Abgeschiedene. Die Seelen der Bösen sind gefürchtet, ihre Rache oder Bosheit versucht man sich mit allen geeigneten Mitteln fernzuhalten. Einige dieser „abgeschiedenen Seelen" inkarnieren sich in Körpern von Tieren und - auf Grund der Reinkarnation - sogar in neu zur Welt kommender Kinder.

Die Welt solcher Geister ist ein Universum für sich. Hand in Hand mit dem Glauben an Naturgeister und „Dämonen" geht die Vorstellung von divinisierten Geistwesen. Neben einer Art des Polytheismus ist zugleich eine Art von Polydämonismus zu verzeichnen. Auf all dies muß sich der Erdenmensch einstellen und mittels magischer Handlungen darauf hinarbeiten, dass sich sein und seiner Sippe Dasein glücklich gestalte und nicht in die Gewalt der bösen Mächte gerate. Die „Heidenmissionare" - von der „Kolonialzeit" bis zum II. Weltkrieg haben sicherlich zurecht konstatiert, dass die Animisten in einer permanenten „Heidenangst" vor den Geistern lebten.

Im Jahre 1889 sandte die britische, anglikanische Südamerikanische Missionsgesellschaft Barbrooke Grubb zu den Lengua in den Chaco von Paraguay. In ihren Aufzeichnungen, deren Lektüre zur Pflichtlektüre eines jeden mit Paraguay befassten Ethnologen gehört, weil sie in unnachahmlicher Weise Leben und Sitten der Chaco-Indianer reflektieren, schildert sie unter anderem, wie sie einen drei Monate alten Säugling, dessen Mutter von einer Grippeepidemie dahingerafft worden war, davor rettete, lebendig begraben zu werden; denn so war es bei den Chaco-Indianern in einer solchen Situation der Brauch. Kaum, dass die Mutter - die man wie alle Sterbenden aus ihrer Hütte geholt und außerhalb der Ansiedlung niedergelegt hatte - die Augen geschlossen hatte, kam der Vater mit einigen Männern, um das Kind, das sich in der Obhut der Missionarin befand, abzuholen. „Ihr werdet es doch nicht umbringen!?", rief Barbrooke Grubb außer sich vor Entsetzen. „O nein, bei uns ist es Sitte, es zu seiner Mutter ins Grab zu legen", antwortete der Vater. - „Lebendig?" - „Aber ja! So ist es bei uns Sitte!" - Die Missionarin begann, die Leute mit „höheren Mächten zu" drohen, falls sie eine derartige Scheußlichkeit begehen sollten. Der Zorn der inzwischen herbeigekommenen Dorfbewohner gegen die fremde Tabubrecherin wurde allmählich lebensbedrohend, bis der junge Häuptling mit einigen anderen jungen Männern sich zu ihrer Überraschung auf ihre Seite stellte und argumentierte: Diese Frau hat tatsächlich Kräfte, die wir in unserem Dorf weder kennen noch besitzen; so wird es ihr sicherlich gelingen, mit Hilfe dieser unbekannten Kräfte unser Dorf gegen den Zorn der Mutter, der wir ihr Kind nicht mitgegeben haben, mit Erfolg zu verteidigen." Man erlaubte ihr zwar, das Kind an sich zu nehmen, doch man verwies sie des Ortes, denn der Geist der erbosten Mutter könnte ja während der Nacht kommen, um sich zu rächen. Man verweigerte der Engländerin jegliche Nahrung, selbst ein wenig Ziegenmilch für das hungrige Baby. Nach einem langen und gefährlichen Marsch durch die karge Landschaft des Chaco erreichte sie schließlich eine katholische Missionsstation, wo man sich des kleinen Waisenkindes fürsorglich annahm, so dass es am Leben blieb. (Grubb, 1991: 107ff.) Bei Barbrooke Grubb kann man viel über den Animismus bei den Lengua lernen! Sie hatte in einer Region, in die bereits seit einem halben Jahrtausend sporadisch Europäern gekommen waren und in der man die Einheimischen mehr oder weniger „evangelisiert" hatte, eine faszinierende Variante des Schamanismus hautnah kennen gelernt. Wenn es nach 500 Jahren des Kontakts mit dem weißen Mann dort noch derart archaische Gebräuche gab, an denen der im Lande herrschende Katholizismus nichts zu verändern vermocht hatte, wie viel schwerer mag es für die Eingeborenen und die ihrer afrikanischen Heimat entrissenen schwarzen Sklaven gewesen sein, sich glatt und mühelos in die Welt der Europäer hinein zu finden?
Diese Geschichte macht deutlich, dass wir nicht erst zu den Griechen oder Römern zurückgehen müssen, um etwas über die Ursprünge der Religion zu erfahren, denn wir haben in Südamerika „zeitgleich" zu unserer modernen Welt eine originäre, von der Zivilisation kaum berührte, Eingeborenenkultur, die uns als ein reichhaltiges und aktuelles Kompendium der Religionswissenschaft dienen kann.

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