Sonntag, 3. Juli 2011

Zwei Brasilianer in Russland

Zwei Brasilianer in Russland

Mit Dr. Walter Frantz befand ich mich im Frühjahr 1994 auf einer akademischen Reise, die uns über Birmingham nach Stockholm und Umeå in Schweden (der “Heimat” Dª Helenas!), danach - wegen des Streiks des fliegenden Personals der Fluggesellschaft SAS - zunächst nach Helsinki in Finnland und schließlich nach Russland führte. In Stockholm war unsere Erfahrung mit Aeroflot die erste unvergessliche Lektion in Sachen “ehemalige Sowjetunion”: In menschenverachtender Weise nahm Aeroflot wohl unsere Koffer, nicht jedoch uns selbst mit nach Moskau.

Als wir einen Tag später mit Finnair in der russischen Hauptstadt ankamen, gab es zunächst Probleme bei der Passkontrolle: Dr. Walter wurde beiseite gerufen und nicht durch die Sperre gelassen, bis man schließlich kapierte, daß er kein geeignetes Objekt für die korrupte Freibeuterei von Grenzbeamten war. Er wäre lieber ins KZ gegangen, als auch nur einen müden Rubel Schmiergeld zu bezahlen! Dann ging es jedoch weiter in diesem Takt, nämlich bei der Reklamation des Gepäcks. Zunächst wusste niemand von nichts! Ich hatte mir aber von SAS die Kopie eines Telex aushändigen lassen, auf dem die Ankunft unseres Gepäcks in Moskau bestätigt worden war. Also wurden wir missmutig an die Leute im Gepäckraum verwiesen! Wo aber befand sich dieser?? Das Benehmen der Zöllner erinnerte mich an den Dorfsowjet, von dem es bei Simmel -Auch wenn ich lache, muß ich weinen, Knaur 1995, S. 225 heißt: "... Solche wie Kotikow haben die Menschen in unserem Land durch Jahrhunderte gequält und klein gehalten, ob als Dorfsowjet, General, Zar oder Großgrundbesitzer ..." Glücklicherweise haben wir in diesem Stadium der Angelegenheit unsere offiziellen Abholer, die uns nach Kazan geleiten sollten, getroffen: die Germanistin Galina und einen moslemischen Geistlichen, denn in Kazan an der Wolga ist die Mehrheit der Bevölkerung von Haus aus mohammedanisch. Den Geistlichen hatte man extra meinetwegen mitgeschickt; das brachte jedoch nicht viel, weil er nur russisch sprach. Er hat uns aber dann 800 km weit nach Kazan gefahren, ohne unterwegs auch nur 5 Minuten zu schlafen! Zunächst allerdings mußten wir unsere beiden Koffer ausfindig machen, was mit Hilfe einer jungen Beamtin auch gelang, um uns anschließend der Zollabfertigung zu unterziehen. Das war auch eine mittlere Komödie. Mehr als ärgerlich war die Behandlung bei der Deklaration unserer Devisen. Wir fühlten uns in die Zeit der Zaren versetzt, in der es Beamte gab, wie Puschkin oder Gorki sie in ihren Werken zur Genüge beschrieben haben. Das Ergebnis der Devisendeklaration war, daß wir uns in der Folge täglich vor dem Moment fürchteten, an dem wir Russland wieder zu verlassen haben würden! (Was dann allerdings völlig harmlos war, wenn auch nicht ohne Schrecksekunden, arreglos und Elemente, die einer Komödie würdig gewesen wären!) Während wir nach dem russischen Abenteuer wieder „entweichen“ konnten, gab es für unsere lieben Freunde keine Alternative. Sie mußten in einer Gesellschaft ausharren, die während der 70jährigen Herrschaft der Sowjets ui den Lastern der Zarenzeit noch die Mängel der sowjetischen Zeit hinzu bekommen hatte. Man versteht, was ein Kritiker meint, wenn er sagt: „Die Tragik des 20. Jahrhunderts liegt darin, daß es nicht möglich war, die Theorien von Karl Marx zuerst an Mäusen auszuprobieren."

Gegen Mittag schließlich ging es mit dem Dienstwagen der Technischen Universität Kazan auf große Fahrt . Wir sassen auf der 800 km langen Strecke 13 Stunden lang im schon etwas schäbigen Wolga. Da konnten wir viel vom interior Russlands sehen! Wir “Brasilianer” sehnten uns bei einem Zwischenstop in einer Art von Straßendorf vor allem nach einer beleb enden Tasse Kaffe. Schilder mit der Aufschrift Cafe oder RECTORAHT (Restaurant) gab es des öfteren, Kaffee jedoch war dort beileibe nicht zu finden, dagegen jede Menge Coca Cola oder Fanta. Russland ist ein Paradies für Limonadenhersteller geworden, denn das Wasser aus den Hähnen (Kränen) ist nun einmal um Gotteswillen nicht trinkbar! Und Tee scheint auch ziemlich rar zu sein. Bier und Wodka gibt es dafür allerorten! Und wie war es mit dem Essen? Salat, das bedeutet konkret Gurke und Tomate in Scheiben, wie auch Kartoffeln, fehlen weder beim Frühstück noch zu Mittag noch beim Abendessen. Hühnerfleisch, vielleicht auch Sardinen, bilden die proteinhaltigen Beilagen. Viel Speck und Geräuchertes oder Gesottenes, Naturquark, jedoch kaum Käse; Schweinswürste, kaum “edlere” Wurst wie man sie bei uns als sog. “Aufschnitt” bekommt. Fleisch vom Chicken und Schwein besassen alle etwas, Rindfleisch jedoch und Milch waren Mangelware, denn seit der Ära Breschnew, in der die Rinderhaltung und Milchwirtschaft reduziert wurden, fehlen in Russia just diese Produkte. Die Anekdote weiß zu berichten: Auf einem Parteitag wird Breschnew ein Zettel folgenden Inhalts gereicht: "Leonid Iljitsch! Warum gibt es in den Geschäften kein Fleisch?" Breschnew antwortete: "Genossen! Mit Siebenmeilenstiefeln schreiten wir dem Kommunismus entgegen. Mit diesem Tempo kann das Rindvieh nicht Schritt halten!" Der Mangel war offensichtlich, der Ausweg waren tomatka, kartoschka, Eier und Speck; rustikal also, nach unserer Einschätzung ein wenig ärmlich. Vegetarier hätten Mühe, in Russland zu üb erleben...

Ein ganzes Kapitel könnte man über Abtritte in der ehemaligen UdSSR schreiben - ein trauriges Kapitel! Ein anderes Kapitel würde sich auf die immer währenden “Verkehrskontrollen” auf der 800 km langen Fahrstrecke beziehen. In Wirklichkeit handelt es sich - noch nach alter NKWD-Manier - um die penible Überwachung des regionalen und interregionalen Verkehrs. Da schlüpft im Ernstfall keine Maus durch!

Als wir endlich gegen 3 Uhr morgens einigermaßen gemartert und übermüdet unser Quartier in Kazan erreichten, waren wir ehrlich schockiert: Es handelte sich um eine Art “Apartmenthotel” der Universität, doch was waren das für “Apartments” und in welchem Zustand waren die hygienischen Verhältnisse? Das WC in meinem “Apartment” war schlichtweg menschenunwürdig, Die Schüssel schien jahrelang nicht gereinigt worden zu sein, die “Brille” nicht viel öfter; die Rohre waren dick mit Rost überzogen, ganz abgesehen davon, daß es beispielsweise keinerlei Papier für “hinterlistige Zwecke” gab (was durch das permanente Mitführen deutscher Tempo-Taschentücher ausgeglichen werden konnte). Die Wasserspülung lief in allen Spültoiletten, die ich im Laufe der Tage zu sehen bekam, ebenso ununterbrochen wie dies bei den Wasserhähnen in den verschiedenen Universitäten und Instituten, die wir in Kazan und Moskau zu sehen bekamen, der Fall war. Am ersten Tag im “Hotel” der Universität erhielt ich weder einen Schlüssel für mein bescheidenes Zimmer noch für die Eingangstür zum Apartment, in dem in einem anderen Raum vom zweiten Tag an unser Freund Prof. Anatolio aus St. Petersburg - oder sollte ich besser sagen: aus Pratos (denn er ist dort geboren!) - nächtigte. Die Concierge, die ebenfalls auf unserem Flur wohnte, hatte einfach nicht daran gedacht, mir bei der Ankunft einen Schlüssel auszuhändigen. In der Lobby-Loge im Erdgeschoss waltete ein Wächter hinter einem Schalter seines Amtes.

Der erste Tag in Kazan war der Pfingstsonntag. Ehe Dr. Walter und ich in seinem, etwas besser als meines ausgestatteten, Apartment mit unserem “Frühstück” beginnen konnten - er verfügte über etwas Pulverkaffee, ein paar Tassen und einen Samowar - wurden wir ganz nach russischer Sitte vom Rektor der Technischen Universität, unserem Gastgeber, zum Begrüßungsfrühstück mit Salat, Fleisch, Cognac, Wodka und Obst “abgefüttert”. Daran schloss sich eine Autofahrt zum Hafen der Wolga an, wo ein Motorschiff auf uns wartete. Der Einstieg ins Boot erfolgte auf etwas abenteuerliche Weise per „Affenleiter”, wie wir das steil aufgerichtete, mit Querlatten versehene, lange Brett tauften, das sich unter dem Gewicht des jeweils nach oben turnenden Passagiers ziemlich durchbog. Wir schafften aber alle den embarque. Neben dem russischen Rektor und seiner Frau waren die Vizerektoren und einige Professoren, die im Universitätsgefüge wichtige Positionen inne hatten, zugegen, dazu unsere Dolmetscherin Dilya, eine Doktorandin, die leidlich Englisch verstand und mühsam auch einige Sätze auf Germanski herausbrachte. Während der 40 Minuten Fahrt wurden wir erneut zu einem ausgiebigen Begrüßungstrunk und Frühstück eingeladen, diesmal in der Kajüte. Ziel war der Ferienstrand der TU Kazan. Die russische Gastfreundschaft gebot, daß wir uns erneut zu einem Frühstück mit vielen Trinksprüchen trafen. Ein kurzer Spaziergang unter Birken und Kiefern sollte uns Appetit auf das unmittelbar darauf folgende Mittagessen machen! Als wir aufatmend meinten, nun sei es mit Essen und Trinken endgültig zu ende, wurde uns bedeutet, daß man aus technischen Gründen nur eine kleine Pause, einen interval einlegen werde, danach solle es mit Schaschlik, Fisch und Fischsuppe weitergehen. Während das Fleisch über dem Rost duftend zu braten begann, zeigte der Gastgeber auf die Büsche hinter dem Grillplatz und bedeutete uns: “Wenn Ihr mal müßt...” Sein Arm zeichnete einen weiten Bogen in die Luft.

Während der Rückfahrt auf der Wolga gab es dann einen Abschiedstrunk mit einigen Happen aus Fleisch oder Fisch. Mittlerweile waren der Toasts viele gesprochen worden. Und die Russen trinken immer auf “ex”! Ich hatte damit bereits aus Vietnam - wo das sowjetische Brudervolk den Wodka populär gemacht und russische Sitten eingeführt hatte - genügend Erfahrung und ließ mir einmal vollschenken, um dann bei jedem Toast nur zu nippen. Mein Verweis auf die Gesundheit wurde wohl toleriert - übrigens auch beim Gang zur Sauna, dem ich mich entzog - der Beruf allerdings wäre keine Entschuldigung gewesen, denn im Lande des “Wässerchens” pflegen auch die Geistlichen nicht abstinent zu sein! Immerhin begründete ich, während Dr. Walter die russische Sauna genoss oder erlitt, in dem umliegenden Wäldchen mit dem Pedell, der kurz und unwillig in der Sowjetarmee gedient hatte, eine pazifistische Konspiration: „Wojna kaputt, nix soldat!“ Wieder im Hafen von Kazan angekommen, ging es per Omnibusfahrt bis zum Quartier, wo inzwischen Prof. Anatolio eingetroffen war, dessen förmliche Begrüßung - mit viel Wodka und Cognac und wiederum dem typischen russischen Abendessen - nun auf dem Programm stand.

Prof. Anatolio Gach, Romanist aus St. Petersburg (Jhg. 1936) ist, wie Dr. Walter in seinem Trinkspruch verriet, in Pratos/Tucunduva - meiner ersten Gemeinde im Dienst der Riograndenser Synode (Dezember 1952)! - geboren und Anfang 1953 nach Polen zurückgewandert Die polnischen Eltern waren 1934 nach Brasilien ausgewandert. Der begabte Sohn besuchte die Maristenschule in Santa Rosa. In Polen nahm er das akademische Studium auf. Nach seiner späteren Zulassung zur Diplomatenschule in Warschau erhielt er ein Visum für die UdSSR, wohin es die Eltern zog. Anatolio studierte Romanistik (Spanisch) - es gab seinerzeit in der UdSSR noch keine Lusitanistik. Später kam die Anordnung der Regierung, in Leningrad eine Abteilung für Portugiesisch zu eröffnen und Prof. Anatolio wurde zum Chef berufen. Zuletzt war er zwei Jahre in Ijuí für die Regionaluniversität tätig. Von daher kannte ihn Dr. Walter. Nach seiner Pensionierung denkt Anatolio evtl. an eine Rückkehr zur Unijuí und zugleich an den Erwerb eines Hauses mit Hilfe der Unijuí und nach dem Verkauf seines Apartments und einer Datscha in St. Petersburg (wo ihn die kranke Mutter wohl noch eine Weile festhalten wird). Wir sind dann noch miteinander bis Moskau und St. Petersburg gereist.

Am Pfingstmontag fand um 9 Uhr unser “Besuch” bei der TU Kazan statt Im Grunde handelte es sich zunächst um die Besichtigung) der Universität Der Beginn unseres Programms wurde wiederum mit einem offiziellen Frühstück, bestehend aus: Quark, Sahne, Ei, Orangenlimonade, Tee und ein wenig Brot, markiert. Danach ging es durch einige Abteilungen - Computerzentrum (Statistikprogramm), Flugtechnik, wie es in einer nach Tupolew genannten Universität nicht anders zu erwarten ist; Raketensysteme - und dann zu einem Besuch des Universitätsmuseums. Dort fand ich Anregung und Unterlagen zur Abfassung eines Flugblattes für brasilianische Interessenten an der Fabrikation eines kleinen Flugzeugs, das den Pflanzern in Rio Grande do Sul die Arbeit erleichtern könnte, wenn man es beispielsweise zum Besprühen der Felder einsetzen würde. Anschließend an den Rundgang durch die Abteilungen erfolgte unsere offizielle Begrüßung im Universitätskonzil, übrigens mit einer exzellenten Rede von Dr. Walter. Dieser besitzt, wie er selbst zu sagen pflegt, physiognomisch eine gewisse Ähnlichkeit mit Michail Gorbatschow was ihm einige unter den russischen Freunden auch amüsiert bestätigten. Alle nahmen seine Reden seht freundlich auf, machten jedoch, wohin wir auch kamen, keinen Hehl daraus, dass sie Gorbatschow auf alle Fälle zum Teufel wünschten. Simmel gibt in dem bereits erwähnten Roman einen Witz wieder, der vielleicht zu erklären vermag, warum in Russland alles noch immer so im argen liegt, trotz Glasnost und Perestroika: „Da fährt ein Zug, der muß plötzlich bremsen und stehen bleiben, denn vor ihm gibt es auf einmal keine Schwellen für die Gleise mehr. Nun, da haben wir ein Problem ... Wie hätte es Lenin gelöst? ... Lenin hätte gesagt: Wir müssen Bäume fällen und daraus Schwellen für die Gleise bauen ... Stalin hätte befohlen, eine große Menge Menschen umzubringen und sie als Schwellen zu benützen ... Breschnew hätte die Vorhänge an den Fenstern der Waggons schließen und alle Waggons von starken Männern ein wenig schaukeln lassen, damit die Passagiere glauben, der Zug fährt wieder ... Gorbatschow hätte den Reisenden gesagt, sie sollten, zum Teufel, selber etwas tun. Da wir nun aber Glasnost haben, stehen alle auf, stecken die Köpfe aus dem Fenster und brüllen wütend: Warum fährt der Zug nicht weiter? Wer ist schuld daran? ..." ( S. 201)

Nach einem Mittagsimbiss unternahmen wir eine Stadtrundfahrt beim Nachmittagsregen! Es war möglich, ein traditionelles Gotteshaus der Orthodoxen Kirche zu besuchen, die Universität zu sehen, an der einst Lenin studierte; den Kremlin, also die fortaleza der geschichtsträchtigen Stadt und selbstverständlich erklärte uns eine eigens angeheuerte geschichtsbeflissene Ärztin in Kürze die Geschichte der Stadt. Das Abendessen zusammen mit den wichtigsten Persönlichkeiten des Lehrkörpers der TU fand wiederum in Dr. Walters Apartment statt: 1. Teil frios - Sauna ! - 2. Teil janta (ich hab’s glücklicherweise verschlafen).

Danach, gegen 22.30 Uhr, erfolgte ein Besuch bei einem aus Ijuí in Urlaub angereisten tatarischen Professors (Physik). Als wir vor seinem Wohnblock vorfuhren, war gerade das Licht ausgegangen, so daß wir die acht Stockwerke im Dunkeln erklommen, die Familienangehörigen in totaler Finsternis begrüßten und kulinarische Aufmerksamkeiten im Dunkeln probierten. Ich mußte das Versprechen abgeben, den Professor anlässlich unseres für den Herbst geplanten Aufenthalts in Ijuí zu besuchen.

Am Dienstag nach Pfingsten, dem 6.6. standen die Verträge zwischen Russland und Brasilien auf dem Programm. Im Laufe des Vormittags wurden zwei Verträge im Rektorat abgeschlossen, die ich als testemunha mitunterzeichnete. Dann ging es mit Dr. Walter zur Landwirtschaftlichen Universität, wo dieser wieder eine gute Rede hielt. Auf die Frage eines alten Marxisten während der Diskussion legte Dr. Walter ein “offenes Bekenntnis” zur Leistungsgesellschaft ohne jegliche staatliche Intervention oder tuition ab, sprach sich jedoch für staatliche Maßnahmen zur Verhinderung der Ausbeutung von Mitarbeitern aus. “Damit bin ich Marx und Lenin vielleicht am nächsten”, so Dr. Walter.

Mir fiel bei der Frage des russischen Freundes die recht boshafte Bemerkung ein: „Was ist der Unterschied zwischen Kapitalismus und Kommunismus?“ - „Im Kapitalismus wird der Mensch vom Menschen ausgebeutet. Im Kommunismus ist es genau umgekehrt!“

Das Mittagessen war bei Prof. Talgat K. Sirazetdinov, der sich freute, einen Pastor im Hause zu haben: Zwei Pastoren habe er kennen gelernt, sagte er in einer Tischrede: in Passo Fundo und nun meine Person. Beide hätten auf ihn Eindruck gemacht. Er fügte noch hinzu: “Ich beginne mich für Religion zu interessieren; ich habe leider zu wenig Zeit dazu.”

In der Nacht fuhren wir per Schlafwagen nach Moskau, wo wir ein besonderes Erlebnis in der Technischen Universität hatten. Zunächst einmal jedoch: An der Eingangsfassade waren ein paar Figuren in Stein zu bewundern. Respektlos bemerkte Freund Anatolio: ”Das sind die einzigen, die in diesem Hause nicht besoffen sind.” Wir hatten Gelegenheit, den Grund für diese Bemerkung zu erfahren: Eines Festes wegen waren der Rektor und die höheren Chargen des corpus docendi abwesend. Der Vizerektor war verdonnert worden, zu bleiben und uns zu empfangen. Außerdem wollte er am Abend zu einer Konferenz nach Bulgarien abreisen. Nur sein alter Lehrer und Mitglied der Akademie der Wissenschaften etc. war geblieben, um ihm Gesellschaft zu leisten. Da es ein Festtag der Institution und noch dazu ein einsamer und langer Tag war, hatte der Vizerektor bereits ziemlich viel “getankt”, als wir zunächst unser Gepäck dort abstellten. Darauf setzten wir uns auf Anordnung unserer Betreuerin Dilya zuerst einmal zu einer kurzen Besichtigung des Kremls und anderer Moskauer Sehenswürdigkeiten ab. Als wir dann zum offiziellen Gesprächstermin in das Büro unseres Vizerektors zurück kamen, gab es nichts mehr zu besprechen, denn der Mann war stockhagelbesoffen, wie man es von literarischen Figuren, wie Puschkin oder Gorki sie einst geschaffen haben, kannte! Und noch viel, viel mehr! Einfach unglaublich, surrealistisch. total unmöglich! Würde man in einem Bühnenstück Ähnliches darstellen wollen, würden alle im Publikum sagen: So etwas gibt es nicht!! Traurig nur, daß eine Handvoll Studenten, die sich noch dazu im Examensstress befanden, dies alles mit ansehen mußten! In einem bestimmten Moment griff unser Gastgeber nach luxuriösen, farbigen Mappen in einem Wandschrank, nahm zwei in die eine und zwei in die andere Hand und erklärte mir, der ich als intermediário fungierte, wir würden es jetzt machen wie die Kinder. Dann trat er, die Hände hinter seinem Rücken versteckt, in den Raum und fragte: “Welche Hand wollen Sie?” Ich verwies auf Dr. Walter: “The Rector first!” Dann begann der Mummenschanz! Schließlich verteilte der Vizerektor an uns noch bis vor kurzem aus Gründen der Geheimhaltung in einem “Rüstungslaboratorium” streng geheime Drucksachen, nicht ohne zu bemerken, daß er in seiner Stellung ranggleich mit einem Minister sei. Dr. Walter raunte mir in einem günstigen Moment die Bemerkung zu: ”Wer weiß, ob sich in den Mappen nicht wichtige Dokumente befinden! Wir nehmen das Zeug nicht mit, sonst werden wir bei der Ausreise am Flughafen noch als Spione verhaftet!” In der Tat ließ Dr. Walter die Tüte mit den kompromittierenden Papieren zum Schluß im Büro des Gastgebers vorsätzlich zurück, doch da die Studenten dazu verdonnert waren, uns am Tage unserer Abreise zum Flughafen zu geleiten, händigten diese uns vor dem Abflug das “heiße” Päckchen wieder aus! Und siehe da, als ich meinen Anteil an der chause zuhause auspackte, fand ich tatsächlich russische Briefschaften und Notizen in einer der Mappen! Während Dilya, unsere Betreuerin aus Kazan, den Vizerektor aus dem Russischen ins Englische und ich dann aus dem Englischen ins Portugiesische übersetzte, entschuldigte sich Dilya einmal bei mir, indem sie sagte: ”I do not know why he suddenly speaks about Winston Churchill.” Ich gab es so an Dr. Walter weiter und übersetzte das Zitat: Churchill habe einmal gesagt, der Balkan sei ein strategisch entscheidendes Gebiet. Die wurde uns offenbar gesagt, weil sich der Vizerektor unmittelbar vor Antritt einer Reise nach Bulgarien befand. Zu den absoluten Merkwürdigkeiten des Termins in jener Moskauer Universität gehörte auch die unzeitgemäße “Ordensverleihung”, die wir die zweifelhafte Ehre und das ebenso zweifelhafte Vergnügen hatten: Nachdem unser Gastgeber uns darauf hingewiesen hatte, daß wir uns in einem Raume befänden, in dem früher der Komsomol zu tagen pflegte, kramte er erneut in seinem Wandschrank und brachte drei kleine Pappschächtelchen hervor, denen er sowjetische Auszeichnungen entnahm: Diese Auszeichnung erhielten nur Absolventen der Technischen Hochschule nach bestandenem Examen. Früher, als die Universität noch eine Art von Planungsbüro für die Rüstungsindustrie gewesen sei und man militärische Traditionen gepflegt habe, hätten die Auszuzeichnenden den Orden, der am Boden eines “stakan”, eines Schnapsgläschens versenkt worden sei, nicht nur den Wodka auf einen Zug austrinken, sondern dann den Orden mit den Zähnen herausnehmen müssen. Bei uns Zivilisten werde die Prozedur etwas erleichtert: Wir hätten nur den Wodka auf einen Zug auszutrinken, um dann den ehrenvoll verliehenen und rite erworbenen Orden an uns zu nehmen. Zum Abschied küsste mir der Hauptdarsteller der Komödie, an der wir als Mitspieler Anteil hatten, ausgiebig die Hand. Dies pflege man in Russland zu tun, um einem Geistlichen Respekt zu erweisen. So bin ich wohl der einzige Geistliche geworden, der ein paar Jahre nach der Auflösung der Sowjetunion ohne Abschlussprüfung an der Technischen Universität innerhalb einer Viertelstunde von ein uns derselben Person einen Orden des Komsomol und dazu auch einen Handkuss erhielt. Das war schon ein merkwürdiger Nachmittag!

Abends erfolgte die Weiterfahrt mit dem Zug nach St. Petersburg .Dr. Walter und ich waren gemeinsam in einem Abteil untergebracht. In St. Petersburg angekommen, fuhren wir in einem kleinen Auto zu einer Gästewohnung der Universität, wo Dilya ein Zimmer allein, Walter und ich ein anderes Zimmer zusammen bewohnten. Dort herrschten saubere hygienische Verhältnisse, jedoch litten wir bei der Hitze, die uns das Wetter während unseres gesamten Aufenthalts in Russland beschert hatte, ständig unter dem Mangel an trinkbarer Flüssigkeit (da das Wasser aus der Leitung nicht getrunken werden darf).

Als erster Punkt auf dem Programm stand ein Besuch im Sprachenzentrum und bei den Romanisten der Universität von St. Petersburg. Walter hielt eine längere Ansprache. Herrlich war, daß wir mit allen unseren Freunden aus der Abteilung für Romanistik problemlos kommunizieren konnten! Alle sprechen Portugiesisch (de Portugal!) bzw., eine Professorin für Spanisch, español !

Dilya betreute uns, auch hinsichtlich der Bestellung der Mahlzeiten im Universitätscafé. Dabei war sie über unseren abweichenden Ess- und Trinkbedürfnisse nicht gerade glücklich. Immerhin spielte sich sogleich die Praxis ein, daß wir am Ende einer jeden Mahlzeit (auch des Frühstücks) “bestellten”, was wir zur folgenden Mahlzeit genießen wollten. Dabei handelte es sich auf unserer Seite lediglich um eine Reduzierung oder Annullierung üblicher Gerichte oder Speisefolgen. Das russische Essen bestand uns einfach aus zu viel Fleisch und Fett. Andererseits boten die Mahlzeiten zu wenig Flüssiges, zumal wir ja dem „Wässerchen“ nicht in gebührender Weise zusprachen.

Bei einer sehr interessanten Stadtrundfahrt mit einem Romanistikstudenten konnten wir auch den berühmten Kreuzer Aurora besuchen und ein paar Erinnerungsfotos dort schießen.

Am Freitag hatte man für uns den Besuch der Eremitage (Winterpalast) eingeplant. Unter der fast professionellen Führung der liebenswürdigen Professora Natascha bekamen wir einen Eindruck nicht allein von den Kunstschätzen, die dort auf einer Wegstrecke von 3000 Metern konzentriert zu besichtigen sind, sondern insgesamt von der russischen Kultur und der Geschichte dieses zähen und tapferen Volkes. Wir stellten überdies fest, daß wir uns in St. Petersburg “mitten im europäischen Haus” befanden und empfanden große Freude und Genugtuung darüber, daß wir nun nach langer Trennung voneinander wieder wie Geschwister miteinander kommunizieren durften! Mit einem Essen als Gäste der Dozentenschaft der Romanistik endete der denkwürdige Besuch in der geschichtsträchtigen und traditionsreichen osteuropäischen Stadt St. Petersburg.

Auf der nächtlichen Fahrt nach Moskau waren Walter und ich wieder in einem Abteil, Dilya teilte ihr Abteil mit einem fremden Mann und war nicht sehr erbaut darüber.

Am Samstag sagte Dilya nach Ankunft in Moskau zu uns: “Bisher waren Sie Gäste, jetzt machen Sie alles, was die Einwohner Moskaus tun müssen.” So erhielten wir einen Einblick in den “Kampf ums Dasein”, angefangen bei der Metro, der Straßenbahn, den Problemen, die auftreten, wenn es um die “menschliche Bedürfnisse” bis hin zum Duschen im “Wohnheim und die Schwierigkeiten des “shopping” in Moskau (zur Verzweiflung meines Reisegenossen stellte das “shopping” zumindest ein mittleres Problem dar!). Wir erlebten ein Mittagessen a la “Mundo de plástico”, die lange Autofahrt zum Flughafen und die Schwierigkeit dortselbst mit dem Gepäck einzuchecken. Wir erfreuten uns aber auch der Freiheit. In der Lanchonette im Obergeschoss zu bestellen, wonach uns zumute war, wenn auch für teueres Geld. Wir verfügten jedoch über eine beträchtliche Summe russischer Rubel, mit der uns die TU-Kazan freundlicherweise ausgestattet hatte, die auszugeben jedoch absolut keine Gelegenheit bestanden hatte und die aus dem Lande auszuführen streng verboten war. Als wir sie verschenken wollten, ernteten wir Protest und Entrüstung. Schließlich gelang es Dr. Walter, den Bestand an Rubeln einer russischen Dozentin überreichen zu lassen, die dafür einige Besorgungen würde erledigen können, ehe sie in einigen Wochen nach Brasilien zurückkehrt. Übrigens verlief die Kontrolle bei der Ausreise problemlos. Zwar hatten wir keine aktuelle Devisenerklärung zur Hand. Doch rettete uns unser Vorschlag, doch einfach das Datum des Doppels der alten, bei der Einreise abgegebenen, Devisenerklärung ändern zu dürfen. Diese, der brasilianischen Kultur des jeitinho entsprungene, Lösung des akuten Problems wurde uns genehmigt. Kaum war das Datum der Erklärung geändert und von der Beamtin abgestempelt, wurde es von dieser auch schon uninteressiert auf den Boden des Flughafens geworfen - ein sehr vernünftiges “Ablageverfahren”! Ein schweizerisch-russisches Speiseeis vor dem Gate zu unserem Flug versüßte uns dem Abschied. Bald ging es mit LH zurück nach Frankfurt! Dort habe ich Dr. Walter noch zum Varig-Schalter begleitet und ihn nach Brasilien verabschiedet, dann ging es für mich ab nach Nürnberg, wo mich meine Frau und unser Gast Oskar Lützow erwarteten.

Até aqui o relatório sobre uma viagem à Rússia!. Es ist eine rein persönliche Schilderung, eine Hilfe für die Rückschau.

Sonntag, 22. Mai 2011

DIALOGOS - HEINZ DRESSEL

DIALOGOS - HEINZ DRESSEL, EL PASTOR LUTERANO QUE SALVO A DECENAS DE PERSONAS DURANTE LA DICTADURA

"Salga, salga de ahí, que yo lo espero"

Dressel fue condecorado recientemente en forma conjunta por las cancillerías de Argentina y Chile. En los '70 permitió que decenas de argentinos, chilenos y brasileños pudieran marchar al exilio a través de un programa de becas. "Tratamos de ayudar a todos, nunca hicimos diferencias", afirmó con orgullo a Página/12.

Para mí?", preguntó el pastor luterano Heinz Friedrich Dressel en voz alta, poco antes de la entrevista, a un mozo que lo llamaba desde el fondo de un salón por una comunicación telefónica. A su regreso, en su cara se veía una sonrisa dibujada, era una llamada desde Nicaragua, dijo, de una exiliada de la que no habló y no hablará más nada hasta poco más adelante, cuando lo exija el relato de su historia.

–Usted viene de Alemania, de una familia singular.

–Yo me crié en el advenimiento del Tercer Reich –comienza Dressel–, en el nazismo, y eso naturalmente influenció toda mi juventud. Cuando terminó la guerra, tenía 15 años. Me crié especialmente en la casa de mis abuelos paternos donde el hermano de mi abuelo había pasado por un seminario teológico luterano y lo habían enviado a los Estados Unidos en 1901, de ahí creo que crecí con el mito del Tío en América. En esa casa había un ambiente prenazista, al contrario de mis padres, que eran ambos miembros del Partido. En casa de mis abuelos se vivía un espíritu del nacionalismo, del imperio alemán que era de un humanismo clásico, antes de que llegara la barbarie. En la retrospectiva, eso me parece que fue importante para mi desarrollo.

–¿Qué pasó después?

–Cuando toda Alemania estaba en ruinas y mientras se proclamaba la Carta Magna de los derechos humanos, nosotros, los jóvenes de mi generación que escapamos de la muerte –porque los más grandes habían muerto en los últimos días de la guerra–, pensábamos que empezaba un nuevo tiempo, una nueva era en todo el mundo. Y así empezó un lento proceso de democratización. Yo me formé como teólogo y después me fui a trabajar como pastor a Brasil. En ese momento, estaba la guerra de Corea, luego Vietnam, y yo llegué a Brasil para la última fase del ídolo de muchos brasileños, Getulio Vargas. Después noté que no sólo en Brasil sino en todo el continente había una cosa de efervescencia.

–Allí estuvo siete años en Río Grande como pastor de las comunidades de alemanes evangélicos.

–Luego del primer tiempo en Brasil, hubo un encuentro de Iglesias en Nueva Delhi que marcó un cambio general. Yo mismo entré, digamos, en la fase sociológica. Quería saber en qué mundo vivíamos; cuántas patas tenía una silla, cuántos hijos tienen las mamás y encontré una embarazada con ¡veinte! Y los veinte sobrevivían.

–Eso terminó en un libro consultado en las universidades de la época. A partir de allí su Iglesia le hizo una nueva propuesta.

–Me preguntaron si quería asumir la dirección de una nueva institución para graduados pastores, seminarios para los estudios académicos. Hablé con mi esposa porque debíamos trasladarnos a Río Grande de nuevo y por tres años. Finalmente, lo hicimos. Nos mudamos a las montañas de Río de Janeiro donde existía la institución pero que no funcionaba. A poco de llegar, aconteció que yo viajé a Europa para tomarme las segundas vacaciones en quince años y unos conservadores de los que siempre hay en el mundo descubrieron un libro teológico que yo había publicado en Suiza y que estaba fuera de las normas de la doctrina oficial. Por esa razón, ellos convocaron a un Consejo de pastores para evaluarlo y la mayoría dijo que yo no servía. Que no se podía dejar la formación de los pastores en mis manos. Así fue que me quedé como refugiado en Alemania, porque todas mis cosas, inclusive mis libros, se habían quedado en Río de Janeiro.

–Quienes lo conocen dicen que en ese momento usted hizo su propia experiencia de exilio. ¿Por qué lo censuraron?

–Eran razones ideológicas, teológicas, digamos. Yo hablé de lo que en teología se llama cristología, la doctrina sobre Jesucristo. Católicos y evangélicos por igual hablan de las dos naturalezas de Jesucristo: una humana y otra divina. Pero la teología crítica dice que eso es imposible, que uno no puede tener dos naturas a la vez y yo defendí a Jesucristo como una persona con mucha natura, pero una natura humana. Si hubiésemos estado en la Edad Media, puedo asegurarle que ya no estaría hablando con usted.

–Porque lo hubiesen quemado. ¿Qué pasó con sus cosas?

–Me quedé como un desterrado porque ni siquiera era un refugiado: mi existencia ya era una pena y un poco más. Tuve que rearmar mi vida, con mis tres hijos. No quería aceptar cualquier comunidad porque, ya quemado y marcado, quería elegir por lo menos un ambiente que más o menos combinara con mi ideología y encontré un lugar en Frankfurt que era y es una Iglesia muy abierta y tenía un aeropuerto más o menos como Buenos Aires: el aeropuerto central del país por el que de vez en cuando pasaba algún brasileño. Eso me permitió seguir un poco en contacto con mi Brasil, y saber qué estaba pasando. Empecé a dar charlas sobre Brasil y América latina. Eso y mi pasado teológico en el Brasil hicieron que algunos líderes de la Iglesia global alemana vinieran a preguntarme si quería asumir la dirección de la Obra Estudiantil Ecuménica.

–¿De qué año habla? Porque eso disparó más tarde toda su relación con los exiliados argentinos.

–Fue en 1968. En Alemania se habían edificado casitas para un programa de becas, pero aún no había programa y todo cayó en mis manos. La idea era generar planes de estudio para todo el mundo, es decir: para todo el mundo subdesarrollado, no los americanos, ni Estados Unidos, ni los suecos. Africa, Corea o los países a los que se llamaba sureuropeos, en vías de desarrollo o Tercer Mundo. Eran becas de posgraduación porque la idea era, y me parece correcta, dejar a las personas en sus propios países para toda la capacitación que pudieran tomar en sus lugares y, luego, lo que no tuvieran podían hacerlo afuera. En ese momento, me propusieron empezar por Africa. Como no conocía Africa empecé por Latinoamérica en 1972.

–Justo a tiempo.

–A mi regreso noté que las cosas desde adentro se veían de una forma, pero que Chile no se iba a quedar como en septiembre de 1972. Allí, yo podría decir que ya estábamos preparados para recibir a los estudiantes de Chile porque era previsible lo que iba a pasar aunque la gente no lo veía, como en Argentina, porque estaban anestesiados por falta de información.

–¿Se acuerda de alguna situación, como ejemplo?

–Cuando llegué a Chile, por ejemplo, me encontré con la huelga de los motoristas porque faltaban neumáticos, pero eso no era apenas falta de algo. Detrás había otra cosa porque casi no era posible conseguir un vehículo para trasladarse. Otra vez viajé por casualidad con un alcalde del sur de Chile. Cuando supo que yo era pastor evangélico me dijo: "¡Ahhh!... Los evangélicos son pastores, los católicos son todos comunistas". Había muchas de estas cosas en la población, y yo volví con algunas informaciones en mi cabeza porque pude hablar con ellos y en Argentina era más o menos lo mismo. Yo sospechaba que ese clima podía ser peligroso para algunos amigos, pero los amigos me decían que no me preocupara. Un día, me llegó una carta de un viajero desde Estados Unidos, que había despachado una carta para Alemania porque ya no era posible mandarla directamente desde Argentina por razones de censura. Yo me di cuenta de que la persona que me escribía se estaba escondiendo porque estaba siendo perseguida por un Falcon o no sé qué. ‘¡Salga, salga, salga!', le dije. Le dije que saliera cuando pudiera, que yo la esperaba. Se lo dije, pero ella no se daba cuenta de que estaba en peligro porque además trabajaba en el Ministerio de Acción Social.

–¿Quién fueron los primeros exiliados?

–Antes de que mi institución existiera, ya había programas de refugiados en Alemania, pero era ayuda en pequeña escala por poco tiempo, en la obra que surgió después de la guerra por necesidad. Sólo que después nadie esperaba olas y olas de personas de Latinoamérica que debían abandonar su país. Y vamos a lo concreto, ya cuando existía el programa un día nos llamaron de una institución protestante de París que había recibido a unos exiliados brasileños y que, por casualidad, uno de ellos hablaba alemán porque el papá era alemán y por esas interrelaciones me llegaron sus datos. Me dije que los vería y a casi todos los llevamos a Alemania. Eso fue en el principio de 1973 tal vez, y luego surgió el golpe de Chile y muchos tenían que dejar el país. Entre ellos, había un grupo de izquierdistas de Brasil que habían sido desterrados, habían pasado por Cuba, luego México y estaban asilados en Chile, después del golpe no podían volver a su país. En el primer momento ellos estaban más en peligro que los propios chilenos. Al principio se refugiaron en la Embajada de Italia, después en México, donde les dijeron que más de tres meses no se podían quedar.

–¿Quiénes eran?

–En Brasil estaban presos y los habían cambiado por secuestrados políticos. También ellos entraron.

–¿Qué requisitos debían cumplir?

–Yo no podía dar ninguna beca para un panadero o un obrero, era un programa académico. Yo debía saber cuál era su currículum académico y saber una o dos palabras de por qué estaba en esa situación. Bueno, lo que sucedió después con ese grupo es que no pasó mucho tiempo antes de que en las hojas esas que ustedes tienen también aparecieran sus nombres como "¿Dónde están estos terroristas?". En ese momento, los servicios de inteligencia del mundo no tenían claro dónde estaban ellos porque habían entrado por Bélgica y todos los que llegaban ahí, eran invitados a quedarse. En ese contexto, encontré instrumentos para arreglar las cosas de otra manera porque quien tenía una beca nuestra podía entrar a cualquier país, porque nosotros pagábamos por él.

–¿No arreglaban los papeles antes, sino después?

–Sí, primero ellos empezaron a vivir con nosotros y después presentaban sus nombres al comité de selección. Pero era una cuestión de confianza también. Y lógicamente, después de unos días los mandaba a la policía de extranjeros para que se registraran como estudiantes de nuestra organización. En ese momento, los servicios secretos que existen en todo el mundo se enteraron bien de dónde estaban, sólo los periodistas aún no lo sabían. Y yo sé que los servicios lo sabían porque cuando se celebró el campeonato mundial en Alemania, mis desterrados brasileños eran obligados a aparecer tres veces ante la policía del barrio, para que no abrieran una bandera o brasileña o roja en el campo de fútbol, o para que no les lanzaran una bomba. Cuando se aquietó Brasil, empezó Chile y después Argentina, Salvador, Nicaragua, después Africa, Filipinas o Etiopía. Y aquí, en Buenos Aires, teníamos un puesto con el secretario general Ille que tomaba contacto con los que debían irse y salir primero por un país vecino. Hubo personas que nos ayudaron. Una persona de Naciones Unidas del Acnur que ayudó mucho y una mujer que atendía el teléfono en el Programa Nacional de Naciones Unidas para el Desarrollo que no tenía que ver con nada, pero la señora que estaba ahí y ocupaba una silla en una oficina, dijo: "Yo voy a hacer algo".

–Las embajadas estaban sobre aviso en Argentina. Cómo hicieron ustedes para sacar a la gente. Además, ¿tenían que ser religiosos?

–No, casi nadie lo era. Habría que preguntarles a ellos pero lo que yo puedo decir es que en un momento quise explorar la frontera para encontrar una posibilidad de que la gente pudiera salir a través de Uruguay, y entrar en territorio brasileño. Y fui porque quería pasar yo mismo. Llegué a un hotel, quería dormir ahí, pero no había estación, por eso seguí de largo. Vi otro hotel, paré el coche, entré, le pregunté al hombre si había lugar para esa noche, me dijo que sí y entonces muy aliviado pensé que tenía una cama para estar y seguir viaje a Uruguay y el hombre me dijo: "Usted ya está en Uruguay". ¡Había atravesado una sola calle, de un lado estaba Rivera (en Uruguay) y Santo do Livramento (Brasil), que separa los dos países! Nadie me controló, y por lo tanto se podía cruzar sin policías. La cuestión era saber si controlaban a los ómnibus, pero para una emergencia se podía usar un coche. Finalmente no se necesitó. Pero lamento hasta hoy que encontré a un argentino que no pude convencer de que se volviera conmigo. Le dije que podía arreglar todo, pero me dijo que su madre estaba muy enferma y que tenía que volver, y hasta hoy nunca más supe qué fue de su vida.

–¿Recibió presiones?

–Tal vez preocupaciones, miedo no. Con 40 o 50 años uno tiene menos escrúpulos que con 70, hoy tengo más escrúpulos a salir de acá que 30 años atrás que andaba en cualquier lado. Aun así, recuerdo un día en Chile cuando volvía de la Vicaría a mi hotel que encontré en la entrada de mi pieza a tres personas vestidas bien elegantes y se incomodaron un poquito al verme. Me dijeron que iban a pedir calefacción. Después llega un señor que dice que viene de la Vicaría donde yo había estado unas horas antes oficialmente. Se presentaba así porque no era posible tratar ese caso en la Vicaría. Me preguntó si yo tenía tiempo y entonces pensé que tenía que decidirme en ese momento: no o sí. Y yo que tengo mucha confianza en los demás, le dije que sí. Y esa persona me presentó el caso de la chica que llamó hoy desde Nicaragua.

–¿Logró sacarla de Chile?

–Miré el caso y traté de buscar una salida inmediata en la semana o una cosa así, nunca con la línea aérea del mismo país, sino Varig, por ejemplo, pero después supe que igual era el Mercosur de la información. Bueno, todos llegaron con Varig. Pero al otro día cuando fui al aeropuerto veo que está medio vacío, compré el diario El Mercurio y de repente escucho que dicen por micrófono mi nombre, que tenía que presentarme ante la policía. No había nadie, y yo tenía el caso de la chica ésta en un bolsillo del pecho. Me encontré en una sala vacía, pedí un café y de repente viene un oficial de Canadá y me dijo: ¿Are you Mr. Dressel? El avión viajaba antes y me estaban esperando sólo a mí.

–¿Cómo hizo con esto de las becas de los estudios? ¿Si una persona estaba en peligro priorizaba rescatarla?

–Eso es un tema muy difícil porque los propios estudiantes pueden contarlo mejor. Yo le mencioné el primer caso de los brasileños que llegaron en 1972 o en el inicio de 1973, otro que llegó de Brasilia que fue cruelmente torturado, preso por nada, y salió un poco perturbado naturalmente con su esposa y un niño y entonces él tenía un bloqueo para atender el curso de lengua. Era un hombre hecho y fue difícil sentarse para que alguien le dijera de nuevo: a, b, c. Un día se enojó, y también los profesores se quejaban. Ellos pertenecían a la institución, eran germanistas, creían que el alumno tenía que ser así y así. Y me criticaron muchas veces porque no querían que hablase portuñol con ellos. En ese contexto, yo intenté conciliar posiciones. Les dije a los exiliados que fueran de vez en cuando a dar su cara, su fisonomía.

–Entiendo.

–O por ejemplo, en la organización, había muchos sin becas que procuraron amparo por lo menos sentimental y psicológicamente. Ellos no recibían beca, pero yo les decía, si tú consigues dar el examen de entrada al curso de alemán, entonces yo puedo pagar el plato, la comida. Hubo casos ortodoxos y no ortodoxos, y de facto nosotros nunca distinguimos entre diferentes tipos de gente.

Entrevista pagina 12, Buenos Aires 2007

Dienstag, 12. April 2011


„Affenjagd" auf guerrilhas

- Zum Dschungelkieg in Araguaia -

Heinz F. Dressel

Viele der von brasilianischen Streit- und Sicherheitskräften während der zwei Jahrzehnte der Diktatur verübten Gräuel sind bereits bekannt, auch Einzelheiten über die brutalen Praktiken, wie sie im Zuge der Guerrilhabekämpfung in Araguaia Anwendung gefunden hatten. Vor kurzem wurden weitere ungeheuerliche Details aus dem Dschungelkrieg bekannt. Der brasilianische Journalist Lucas Figueiredo brachte ans Tageslicht, dass die Militärs in der Region am Araguaia zur Aufspürung und Liquidation von guerrulheiros Indios einsetzt hatten, die durch vorher erlittene Folterqualen „kooperationsbereit" gemacht worden waren. Ihre Aufgabe war es, den guerrilheiros die Köpfe abzuschlagen. Nach vollendeter Arbeit wurden sie selbst liquidiert. (Blog, Tribuna da Imprensa, Helio Fernandes, 6.4.20011)

Die Jahre zwischen 1970 und 1974 waren für die Militärs in Brasilien vom Krieg gegen die Stadtguerrilha und die kleinenGruppen der Landguerrilha im Amazonasgebiet geprägt.

Ich erinnere mich noch genau daran, wie man mir im Juli 1972, bei meinem Besuch in Belém do Pará, von Stoßtruppunternehmen der Armee berichtete, die - so lautete das Gerücht - in der Region Araguaia ein Kontingent von 10.000 Soldaten zur Jagd auf ein paar sechzig guerrilheiros des PC do B, der Kommunistischen Partei Brasiliens, unterhalte. Tatsächlich hatte die Armee bereits 1972 zwei Operationen im Antiguerrilhakrieg unter Einsatz von ca.. 3.500 Mann durchgeführt. Eine derart aufwendige Militäraktion hatte es seit der Zeit des brasilianischen Expeditionscorps im Zweiten Weltkrieg nicht mehr gegeben. Bei den guerrilhas handelte es sich, wie gesagt, um kommunistische Kämpfer, die, wie man sie gelehrt hatte, von der Vorstellung einer guerra popular besessen waren, dazu war wohl auch der jedem Brasilianer geläufige Mythos von der Coluna de Prestes sowie von Lampião und Maria Bonita kräftig idealisiert worden.

Die Garnison Belém war, wovon ich mich überzeugen konnte, sehr gut ausgebaut. Es gab übrigens bereits ein Jahr vor Beginn der guerrilha von Araguaia zahlreiche guerrilha-Gruppen im Gebiet von Imperatriz-MA, gegründet von Organisationen, die nichts mit dem PC do B zu tun hatten. Sie wurden im Zuge der bis dahin von der Armee geheim gehaltenen „Operation Mesopotamia" restlos"exterminiert", wie es damals militärisch knapp und präzise hieß.

Zwischen 1972 und 1975 hatte sich dann im Süden des Staates Pará ein unbeschreiblich grausamer Dschungelkrieg abgespielt, von dem die meisten Brasilianer nicht die geringste Ahnung hatten. Entsprechend dem Kriegsrecht hatte man den Medien absolute Schweigepflicht in Sachen Guerrilhakrieg auferlegt. Erst Jahre später kamen einige einschlägige Fakten - und damit auch die von der Truppe begangenen Gräuel - tropfenweise ans Licht der Öffentlichkeit. Ein ziviler Gehilfe der zur Guerrilhabekämpfung in der Region Marabá agierenden Truppenteile, Manuel Leal de Lima, Vanu genannt, der sich unter der Folter zur Mitarbeit im Kampf gegen die guerrilha bereiterklärt hatte, berichtete Reportern der ZH (10.5.96) über seine Erlebnisse.

Als sich in der Gegend seines väterlichen Gehöfts ungefähr zehn Fremde - Angehörige der Landguerrilha - niederließen, ein Haus errichteten und Maniok- und Maispflanzungen anlegten, nahm Vanu an, es handle sich um fazendeiros. Man kam bestens mit ihnen aus. Die Kämpfer des PC do B hatten sich in der Region, völlig unverdächtig, vorwiegend als Landwirte, Lehrer, Fischer, garimpeiros (Gummisucher), Besitzer kleiner Kramläden oder auch schon einmal als Apotheker ausgegeben; für die Einheimischen waren es zugewanderte „paulistas", mit denen man ausgezeichnet auskam. Einige waren schon Ende der 60er Jahre in die Region gekommen.

Die Geschichte des Zeitzeugen sargento João da Santa Cruz Sarmento, der hautnah an den Aktionen der Armee in Araguaia teilgenommen hatte, bringt ein wenig Licht in die offiziell bis heute de facto als Staatsgeheimnis behandelten Vorgänge in der Wildnis Amazoniens.

João da Santa Cruz hatte gegen Ende der 60er Jahre zusammen mit einer Reihe von Kameraden an einem Kurs der berühmt-berüchtigten Escuela de las Américas in Panamá teilgenommen, bei dem die Gruppe in die Kunst des Dschungelkrieges eingeführt worden war. Aus der Erfahrung dieser Gruppe von brasileiros in Panamá war dann die Bildung eines Batalhão da Selva - einer Einsatzgruppe für den Dsachungelkrieg - in Manaus hervorgegangen.

Der erste Einsatz des sargento Santa Cruz in der Region Araguaia erfolgte am 3. April 1972. Bis zur Ankunft in Marabá erklärte man der Gruppe die Natur ihres Auftrags. Ein Teil der Abteilung begab sich nach São Domingos do Araguaia, der andere nach Palestina. Die Gruppe, zu der Santa Cruz gehörte, wurde zu einem Ort, den man als „72" bezeichnete, beordert. Dort kämen die „paulistas" regelmäßig vorüber, hatten die Einheimischen berichtet.

„Wir kamen dort an, als wollten wir ein Stück Land erwerben; so suchten wir eine Menge von Leuten auf und sammelten auf diese Weise nützliche Informationen auch über die „paulistas", berichtete Santa Cruz. Auf diese Weise gelangten die als potentielle Landkäufer, bärtig und einfach, wie die camponeses, gekleideten Soldaten zum „Chega com Jeito", einem Ort, an dem die ebenfalls verkleideten guerrilheiros sich zu treffen pflegten. Dort stießen sie auf drei von ihnen: Ari, Dina und Piauí. Von diesen erhielten sie weitere Auskünfte und waren schließlich in der Lage, eine Karte der Region anzufertigen, mit der sie dann zu ihrer Basis nach Manaus zurückkehrten, um sie ihren Vorgesetzten auszuhändigen.

Die ersten militärischen Operationen während des Jahres 1972 waren erfolglos geblieben. Nach gründlichen Aufklärungsmaßnahmen kehrten 1973 Spezialeinheiten mit dem eindeutigen Auftrag zurück: „prender, matar ou morrer" - fassen und töten oder getötet werden.

De facto wurden gefangene guerrilheiros - sofern sie nicht auf der Stelle erschossen wurden - den sogenannten „doutores" übergeben. Diese betrieben ihr trauriges Geschäft in der Casa Azul, dem Vernehmungs-zentrum, das man auf dem Gelände des DNER mit allen bei einem „peinlichen Verhör" erforderlichen Utensilien installiert hatte. Bei den „doutores" handelte es sich um Spezialisten des DOPS, die ihr unseliges Handwerk gründlich erlernt hatten. Einer von ihnen war Romeu Tuma. Sargento Santa Cruz hatte u. a. die Gefangenen Piauí und Doca zur Casa Azul gebracht.

Als nach den geheimen Erkundungen eines Tages reguläre Soldaten in der Gegend auftauchten und erklärten, sie seien gekommen, um Terroristen ausfindig und unschädlich zu machen, war das Erschrecken bei den Einheimischen groß. Von diesem Augenblick an begannen die Soldaten die in der Region ansässigen Bauern schrecklich zu drangsalieren, ihr Vieh zu töten und die Felder zu verwüsten, damit niemand den terroristas Nahrungsmittel überlassen konnte. Die „paulistas" oder „fazendeiros" hatten sich mittlerweile längst in die Wälder geflüchtet. Nach einem halben Jahr kamen einige von ihnen wieder zum Vorschein und verlangten ausgehungert nach Essen. Vanus Schwiegervater, der Mitleid mit diesen Leuten empfand, hatte ihnen zu essen gegeben und war dann mit ihnen gezogen. Daraufhin nahm das Militär die Schwiegermutter fest und fasste bald auch den Schwager samt zwei guerrilheiros, André Grabois und Divino Pereira dos Santos. Alle drei wurden erschossen und Vanu erhielt den Auftrag, sie zu begraben. Er lud die drei Leichen auf den Rücken eines Esels und brachte sie bis zu einer Vertiefung hinter einem der Häuser.

So erfuhr die Öffentlichkeit durch den „Pfadfinder" der in der Region Araguaia operierenden Einheit der Streitkräfte, „Pfadfinder", der gleichzeitig als „Totengräber"der in jener abgelegenen Gegend aufgespürten guerrilha-Kämpfer und Kämpferinnen sowie des warmherzigen Kleinbauern Manuel Leal Lima eingesetzt wurde, auch von der Existenz eines Vernehmungszentrums, der Casa Azul und der acht geheimen Friedhöfe, auf denen man drei Jahrzehnte später 41 Skelette ermordeter guerrilhas aus den frühen 70er Jahren fand. (ZH 3.5.96)

Sitz des Vernehmungszentrums war das Areal des Nationalen Straßenbauamtes (DNER) von Marabá, auf dessen Gelände noch Mitte der 90er Jahre die Geräte und Apparate als Schrott herumlagen, die man bei den Praktiken der Tortur benötigt hatte. Auch auf dem Gelände des DNER hatte man 20 Kämpfer des PC do B verscharrt. Manuel Leal Lima war Zeuge grausamer Szenen geworden, die sich dort zugetragen hatten. In einer der sieben Zellen, welche die Armee dort für ihre Gefangenen eingerichtet hatte, war er als junger Mann selbst drei Wochen lang festgehalten worden, ehe man den ortskundigen Kolonistensohn mit der Aufgabe eines „Pfadfinders" und Totengräbers betraute. In der Regel wurden die Gefangenen unmittelbar nach einem brutalen Verhör durch ein paar Garben aus der Maschinenpistole niedergemäht. In der seinerzeit gültigen Werteskala zählte die ideologische Ausrichtung des Menschen mehr als seine physische Existenz. Dies war auf beiden Seiten, bei den Hütern des Staates ebenso, wie auch bei den Feinden des Systems, der Fall.

Osvaldo Orlando da Costa, einer der gefürchtetsten guerrilheiros jener Jahre, war, ehe er in das Guerrilha-Gebiet Amazoniens gekommen war, bereits an mehreren Raubüberfällen beteiligt gewesen und hatte dazu an der Ermordung von „inimigos" teilgenommen. Einmal im Kampfgebiet eingetroffen, zeichnete er für den Tod zweier Soldaten verantwortlich und trug darüber hinaus die Verantwortung für das „justiçamento", für die „Hinrichtung" von Genossen, die man des Verrats bezichtigt hatte oder bei einem Absetzmanöver ertappt hatte. Osvaldão wurde im Februar 1974 im Dschungel von einer Patrouille der Armee überrascht und erhielt einen Bauchschuss. Die Patrouille schleifte den Schwerverwundeten an den Füßen, den Kopf am Boden, durch den Wald, bis sie ihren Hubschrauber erreichte, band ihn mit einem Seil am Helikopter fest und brachte ihn so zu ihrer Basis, um seine Leiche dann vor den camponeses als Trophäe zur Schau zu stellen.

Helio Gaspari berichtet von einem Gespräch, das General Geisel am 16.2.74, vier Wochen ehe er das Amt des Präsidenten der Republik übernahm, mit seinem Waffenbruder Dale Coutinho führte. Dabei ging es auch um die „Subversion" und die Methode ihrer Bekämpfung. Coutinho merkte an, dass es für den Krieg gegen äußere Feinde exakte Gesetze gebe, für „unseren spezifischen Krieg" leider nicht. „In vielen Fällen war ich gezwungen, jemand länger als 30 Tage lang festzuhalten. Es war illegal." Im Verlauf des Gesprächs fügte er noch die Bemerkung hinzu: „Dann begannen wir damit, zu töten." Geisel erwiderte darauf: „Diese Sache mit dem Töten ist eine Barbarei, doch ich denke, es muß sein." Coutinho kam auf seine Erfahrung bei der Armee zurück: „Ich war gezwungen, mit diesem Problem fertigzuwerden und mußte töten." Der künftige Präsident pflichtete ihm mit den Worten bei: „Wir werden im kommenden Jahr weitermachen müssen. Wir dürfen uns von diesem Krieg nicht abwenden." Erneut kam General Coutinho auf die Rechtslage zurück: „Die Militär-kommandeure sind gänzlich ohne Rückendeckung durch die Justiz. Man trägt die Verantwortung, denn jemand muß sie tragen." Nüchtern kommentiert Gaspari: „Das Töten wurde fortgesetzt, auch bei denen, die sich ergaben." (A Ditadura Derrotada, 324ff.) Die verbrecherische Praxis der „Liquidation" wurde sowohl gegen die Land- als auch gegen die Stadtguerrilha erbarmungslos angewandt. 1974 war die „Politik der Extermination politischer Gefangener" auf ihrem Höhepunkt angelangt. „Es gibt Elemente, die man nicht am Leben lassen kann ... dies ist die Art des schmutzigen Krieges, den man verliert, wenn man nicht mit den gleichen Waffen kämpft wie sie, bemerkte Oberstleutnant Germano Arnoldi Pedrozo in einem Gespräch mit Geisel, der dann antwortete: „Gewiss, was man jedoch zur jetzigen Zeit tun muß, ist mit großer Intelligenz vorzugehen, damit von dieser Geschichte keine Spuren bleiben." Es waren nicht abusos - missbräuchliche Handlungen - auf der „unteren Ebene", auf deren Konto die Toten - Suizidanten, auf der Flucht Erschossene, bei Scharmützeln ums Leben Gekommene - und die Verschwundenen ging, sondern die Extermination war im Prinzip von oben gewollt und abgesegnet, nicht etwa nur geduldet. Die Statistik zeigt exakt die Zunahme der Praxis der Liquidierung im Verlauf der Militärdiktatur. Während es in den Jahren von 1964 - 1969 bei insgesamt 58 einschlägigen Todesfällen nur 4 Fälle des Verschwindens gegeben hatte, war das Bild in den darauf folgenden Jahren, von 1970 - 1974 wesentlich anders: allein im Jahr 1970 zählte man 30 Tote und 5 Fälle des Verschwindens. Danach stiegen die Zahlen in beiden Bereichen kontinuierlich an, bis zu 52 Toten und 52 Verschwundenen im Jahre 1974. (Gaspari, A Ditadura Derrotada, S. 387ff.)

Marighela hatte in seinem Manual da Guerrilha Urbana von einem Nervenkrieg gesprochen. Nun war er Wirklichkeit geworden! Die guerrilha könne auf den Terror nicht verzichten, lautete die Doktrin, von atos terroristas revolucionários - revolutionären Terrorakten - sprach man gern. Roque Dalton berichtete in seiner Arbeit Revolución en la Revolución? y la crítica de derecha, La Habana von der Spaltung der PCB in São Paulo. Dort habe sich unter der Führung von Carlos Marighela eine Gruppe von Dissidenten gebildet. Diese habe sich klar für den bewaffneten Kampf, für den Einsatz einer Land- und Stadtguerrilha unter den in Brasilien gegebenen Bedingungen ausgesprochen. Auch habe sie für die Unter-stützung der Allgemeinen Erklärung der Lateinamerikanischen Organisation für Solidarität (OLAS) votiert sowie der Entscheidung, dem Beispiel des Kommandanten Ernesto Guevara zu folgen, zugestimmt. Daneben habe sich die „Revolutionäre Kommunistische Partei" von Alves gebildet, unterstützt von den Organismen der KP von Minas Gerais und der Mehrheit des Staatlichen Komitees von Rio de Janeiro; des weiteren die Kommunistische Arbeiterpartei, und zwar mit Unterstützung der sogenannten „Dissidenten" in Rio Grande do Sul; gleicherweise sei es auch zur Bildung von Dissidentengruppen innerhalb der Jugend der PCB gekommen. Alle übten sie großen Einfluß auf die Studentenbewegung aus. Neben Kuba und der Volksrepublik China haben, wie man weiß, auch Nordkorea und Algier den bewaffneten Kampf der marxistisch-leninistischen Bewegungen gegen das Regime in Brasilien finanziell unterstützt.

In den großen Zentren häuften sich Banküberfälle, die auf das Konto kommunistischer Dissidentengruppen, namentlich des MR-8 (Movimento Revolucionário 8 de Outubro), ausgingen (von 1968-70 wurden über 225 solcher Überfälle gezählt). Dazu kamen 75 Überfälle auf Geschäftsunter-nehmen. Die Zahl der Flugzeugentführungen nach Kuba betrug sieben. Nachrichten über Bombenattentate (in 2 Jahren 60), Auto- und Waffendiebstahl in den großen Städten, Brandstiftung auf Zuckerrohr-plantagen in Pernambuco etc. füllten die Spalten der Gazetten. Bei derartigen Anschlägen wurden 42 Menschen verletzt, 10 von ihnen tödlich.

Die Brutalität nahm rapid zu und erreichte aufseiten des Staates, dessen Aufgabe es war, für „Recht und Ordnung" zu sorgen, ein bis dahin unvorstellbares Ausmaß was gerade auch im Verlauf der Operação Marajoara, die im Oktober 1973 begann, zu beobachten war.

Drei Jahrzehnte nach den scheußlichen Gräueln, wie sie im Rahmen der Operação Marajoara in der Region verübt worden waren, trafen sich in São Domingos de Araguaia 114 Opfer und Zeitzeugen im Rahmen einer „Wahrheitskommission" bzw. der im Jahre 2005 gegründeten Associação dos Torturados da Guerrilha do Araguaia, um die Leiden der einheimi-schen camponeses und ihrer Familien der Vergessenheit zu entreißen und Recht einzufordern. Priscila Lobregatte berichtete darüber:

Unter den Opfern befand sich der nunmehr 80jährige Frederico Lopes, den die militärischen Folterknechte zu einem debilen menschlichen Wrack geprügelt hatten. Für ihn sprachen seine Frau und sein Sohn. Frederico wurde von den Militärs von der fazenda Fortaleza, wo er mit den Seinen lebte und arbeitete, nach Bacaba, einem Ort in der Nähen von São Domingos, àm Rand der Transamazônica, gebracht. Dort befand sich ein Lager, in dem alle die Verhafteten gesammelt wurden. Wurden neue Gefangene eingeliefert, fand eine Art von „Selektion" statt. Man trennte diejenigen, die dort auf Dauer festgehalten werden sollten, von solchen, die für ein anderes Lager der Armee in Marabá, Xambioá oder Araguaína bestimmt waren. Mißhandelt wurden sie alle. Die gefangenen Männer wurden auf einen Haufen von Blechbüchsen gestellt, dann schubste man sie, während man sie am Penis festhielt, berichtete eine Zeugin.

Die Blechbüchsen, in denen die Nahrung für die Truppe geliefert wurde, benutzte man nun als Folterwerkzeug. Die Gefangenen wurden gezwungen, barfuß auf den Haufen geleerter Blechbüchsen zu steigen, dann traten die Soldaten mit ihren Stiefeln gegen die Büchsen, so dass die Gefangenen zumeist die Balance verloren und zu Boden stürzten. Wer auf den Boden gefallen war, galt, einer abstrusen Logik zufolge, als guerrilheiro.

Die Probe der „latinhas" - der Blechbüchsen - war nicht die einzige Mißhandlungsprozedur im Lager. Zu der „Behandlung" gehörten auch Schläge auf den Kopf. Bei Frederico hatten sie dazu geführt, dass er für den Rest des Lebens den Verstand verlor.

Nach 60 Tagen der Gefangenschaft und Mißhandlung, die Federico zu erdulden hatte, weil er guerrilheiros, die in der Region lebten, kannte, wurde er nach Belém do Pará, in die Hauptstadt des Bundesstaates Pará, verbracht, um psychologisch behandelt zu werden, doch „die Gefolterten gewinnen niemals wieder, was sie verloren haben", lautete der Kommentar eines der Zeitzeugen.

Alle camponeses, die seinerzeit in der guerrilha-Region lebten, verloren ihr Hab und Gut und wussten nicht, wie sie ihre Familie ernähren sollten. Heute, mit ihrer Associação dos Torturados da Guerrilha do Araguaia, kämpfen sie für ihr Recht gegen ihren brasilianischen Staat, der sie in den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts zu Rechtlosen gemacht hatte. (Priscila Lobregatte, enviada a São Domingos de Araguaia, anistia.multiply.co /views/item/86)

Unter den Einheimischen gab es auch eine Anzahl von „Waldmeistern" oder „Waldläufern" - mateiros sagen die Brasilianer - Personen, die sich im Wald gut auskennen. Die Militärs bedienten sich gern ihrer Dienste, wenn es darum ging, die Verstecke der guerrilheiros ausfindig zu machen. Einer dieser mateiros, war Cícero Pereira Gomes, der ebenfalls an der Wahr-heitsfindungskommission in São Domingos de Araguaia teilgenommen hatte.

Am 14. September 1973 nahm man ihn mit in den Urwald und mit seiner Hilfe machte man das Versteck des guerrilheiro Chicão, bzw. Adriano Fonseca aus. „Es half nichts, ihn lebend gefangengenommen zu haben, denn er wurde auf jeden Fall getötet und seine Leiche in den Fluss Chicão geworfen", berichtete Cicero und merkte an, er sei auch bei der Festnahme von Jaime, Peri, Fogoio, Raul, Luiz Carlos, Daniel, Áurea, Lia, Tuca, Rosa und Valquiria zugegen gewesen. Jaime Petit sei mit sechs Gewehrschüssen getötet und die Leiche anschließend enthauptet worden. Damit sprach er ein besonders grausames Kapitel der Jagd auf guerrilheiros an: die decapitação - die Enthauptung.

Das 2007 erschienene, gewichtige Buch Direito à memória e à verdade, von dem nachher noch ausführlich die Rede sein wird, erinnert (S. 195ff.) gerade auch an diese grausame Praxis der Streit- und Sicherheitskräfte im Kampf gegen die „Subversion", die auch bei den Operationen in Araguaia Anwendung fand. In dem Buch wird als trauriges Beispiel für die unvorstellbare Grausamkeit der Repression das Schicksal der guerrilheiros Arildo Airton Valadão, „Ari"(S. 222f.), und Osvaldo Orlando da Costa, „Osvaldão",(S. 249f.) angeführt.

Es wird berichtet, laut Aussagen von Einheimischen starb Osvaldão am 24. April 1974 kurz vor der Karwoche in der Nähe von São Domingos. Sein Körper wurde mit einem Seil an einem Hubschrauber gehängt und auf diese Weise von Saranzal, wo man ihn getötet hatte, zum Lager der Truppe in Bacaba und von dort nach Xambioá geschleppt. Als man die Leiche zum ersten Mal an den Hubschrauber angeseilt hatte, fiel dieser herab und die Knochen eines Beins brachen. Später wurde sein abgetrennter Kopf öffentlich zur Schau gestellt. Im Lager Xambioá hatten Soldaten seine Leiche mit Fußtritten, Stockschlägen und auf dieselbe geworfenen Steinen geschändet, ehe sie verbrannt wurde. Dann warf man die Reste in ein unter der Bezeichnung „Vietnã" bekanntes Loch (einen Graben am Ende der Flugpiste der Militärbasis Xambioá), wohin man die Toten und Sterbenden zu werfen pflegte. Nach Beendigung der militärischen Operationen in der Region wurde das Gelände der Militärbasis eingeebnet und nichts erinnerte mehr an die frühere Nutzung des Geländes.

Ângelo Lopes de Sousa, inzwischen 74 Jahre alt, hatte die enthauptete Leiche Osvaldãos gesehen. Er war 1964 von Maranhão nach São Domingos gekommen. Dort besass er ein Stückchen Land an einem Metade genannten Ort, wo er mit seiner Familie lebte. „Ich arbeitete von 1973 bis 1974 mit den Streitkräften und war um die achtmal mit ihnen im Wald", berichtete er. Er erinnerte sich, dass es in „Chega com Jeito" ein Scharmützel zwischen den Soldaten und den guerrilheiros gegeben hatte. Dort starb „Aí"und der „Pfadfinder" Ângelo Lopes de Sousa sah den toten Osvaldão in der „Grota da Onça". „Ich war an diesem Tag als „guia" - landeskundiger Führer - tätig und sah seinen vom Körper abgetrennten Kopf", erinnerte er sich.

Ângelo erinnerte sich daran, dass die Soldaten ihre „guias" als „Köder" vor sich her laufen ließen. Die Gruppe Peixinhos, erinnerte er sich, wurde von Capitão Salsa angeführt. „Der trug keine Uniform, sondern die übliche Bauernkleidung. Ich ging mit, weil man mich dazu zwang, aber ich habe keinen Tropfen Blut von irgendjemandem vergossen", resümierte er.

Peixinho sprach auch von Pedro Carretel, einem camponês, der sich den Forças Guerrilheiras do Araguaia (Forga) - den Guerrillakräften von Araguaia - angeschlossen hatte. „Man ergriff ihn lebend. Sie füllten ihn mit Blei, doch er starb nicht. Sie nahmen ihn mit nach Bacaba. Carretel prophezeite „von dem Tag an, an dem ich hier herauskomme, werdet ihr mir nicht entgehen". Nur weil er das gesagt hatte, wurde er umgebracht. Ich mochte ihn sehr. Ich wollte ihn nicht sterben sehen."

Erst kürzlich wurden gänzlich neue Details über die menschenverach-tenden Praktiken der Antiguerrilhatruppe von Araguaia bekannt, als Lucas Figueiredo in der Monatsschrift GQ in einer reichlich illustrierten Reportage ans Licht brachte, wie die Truppe mit den Männern eines winzigen und friedlichen Indianervolkes, den in der Region Araguaia lebenden aikevara, umgegangen ist: sie wurden als „guias" oder „Pfadfinder" mit in den Urwald genommen, wobei man ihnen vormachte, es ginge darum, Affen zu erlegen - „matar macacos". Doch, berichtete einer der índios aus diesem Völklein, „era para cortar a cabeça de homens e mulheres, guerrilheiros" - es ging darum, den Männern und Frauen der guerrilheiros den Kopf abzuschlagen". Einer der wenigen Überlebenden, der Zeuge índio aikevara Warani, sagte aus: „Nos levaram para a selva, dizendo que era para caçar macacos. Mentira. Era para caçar guerrilheiros" - sie nahmen uns mit in den Urwald und sagten es ginge darum, Affen zu jagen. Lüge! Es ging darum, gerrilheiros zu jagen.

Eines der großen Geheimnisse im Kontext der Guerrilhabewegung von Araguaia ist der Verbleib der sterblichen Reste der Dschungelkämpfer. Viele Leichen wurden aus den Gräbern entfernt und an anderer Stelle verscharrt, wobei man die Grabplätze unkenntlich gemacht hatte. Der Antiguerrilhakampf in Araguaia war mit dem ausgehenden Jahr 1974 beendet worden; die Guerrilhakämpfer und -kämpferinnen hatte man liquidiert; die Leichen blieben verschwunden. Man hatte die Spuren der im Namen des Staates begangenen Gräuel fachmännisch „entsorgt". Man hatte exakt nach der Devise gehandelt, die General Geisel in einem Gespräch Oberstleutnant Germano Arnoldi Pedrozo so umschrieben hatte: „Was man zur jetzigen Zeit tun muß, ist mit großer Intelligenz vorzugehen, damit von dieser Geschichte keine Spuren bleiben."Nach Diva Santana, conselheira der Comissão de Mortos e Desaparecidos, Mitglied der Gruppe Tortura Nunca Mais in Bahia und Schwester der „verschwundenen" guerrilheira Dinaelza Santana Coqueiro, sind die der Kommission über dieses Problem vorliegenden Aussagen nicht besonders hilfreich, denn die Zeugen wissen zwar viel, doch zögern sie aus Vorsicht vor Repressalien stark, wirklich frei und ungezwungen zu sprechen.

Es ist offensichtlich, dass die Militärs die Hand eisern auf den einschlägigen Archivalien halten; da halfen bislang auch offizielle Mahnungen, Rügen oder gar Verurteilungen durch internationale Organisationen, wie z. B. durch die Corte Interamericana de Direitos Humanos, eines mit der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) verbundenen internationalen Gerichts, bislang nichts. Von einer rechtsstaatlichen Ahndung von Staatsverbrechen, wie sie in diesem Überblick zu Araguaia massenweise benannt worden sind, kann keine Rede sein.

Zur allgemeinen Überraschung hat die Regierung Brasiliens inzwischen allerdings bewiesen, dass sie dazu bereit ist, das von ihr gegebene Versprechen, die Archive des Schreckens zu öffnen, auch zu erfüllen. Am 29. August 2007 legte der damalige Präsident, Luiz Inácio Lula da Silva, im Palácio do Planalto, dem Regierungspalais in Brasília im Verein mit Justizminister Jobim und den Beauftragten der Regierung für Menschen-rechtsfragen eine umfangreiche Dokumentation über 339 Opfer - Tote und „Verschwundene" - der Militärdiktatur aus den Jahren 1964 - 1985 vor: „Direito à Memória e à Verdade". In seiner Ansprache betonte der Präsident, die Regierung wolle der Gesellschaft mit der vorgelegten Dokumentation dabei helfen, die Seite mit dieser Geschichte ein für allemal abzuschließen und umzublättern. Der Vorsitzende der Comissão de Mortos e Desaparecidos, Marcos Antônio Barbosa, hingegen forderte die Bestrafung solcher Angehöriger der Streitkräfte, die seinerzeit die Folter angewendet hatten. Justizminister Jobim warnte, dass jegliche Reaktion auf die Veranstaltung anlässlich der Vorstellung der Dokumentation „Direito à Memória e à Verdade" die ihr gebührende Antwort erhalten werde. Es blieb dann nicht aus, dass die Militärs auf die ungewöhnliche Veranstaltung entsprechend reagierten. Dies fing bereits damit an, dass die Chefs der drei Waffengattungen der Einladung zur Präsentation der Dokumentation über 339 Opfer - Tote und „Verschwun-dene" - der Diktatur nicht Folge leisteten. Unmittelbar nach der Veran-staltung im Regierungspalais erklärte General Enzo Peri im Namen des Oberkommandos in einer Mitteilung an die Presse, das Amnestiegesetz von 1979 habe der Nation die Versöhnung gebracht und gelte für beide Seiten. Dem Murren der im Clube Militar vereinten Reservisten setzte der Verteidigungsminister entgegen, Versöhnung könne es nur da geben, wo die Streitkräfte bereit seien, sich zu erinnern, und nicht, wo die Erinnerung verhüllt werde.

Die 500 Seiten umfassende Publikation dokumentiert das Ergebnis des elfjährigen Forschens der Comissão Especial sobre Mortos e Desapare-cidos Políticos. Der gewichtige Band beginnt mit einem historischen Überblick, nicht nur über die Situation in Brasilien, sondern zugleich über die Lage im lateinamerikanischen Umfeld während des betreffenden Zeitraums. Ein besonderes Kapitel bezieht sich auf die Arbeit der Kommission und auf die Herausforderungen, denen sie gegenüberstand, z.B. im Zusammenhang mit der Suche nach den „Verschwundenen"und mit dem Zugang zu spezifischen Archiven. Bemerkenswert ist der Abschnitt über „Fälle" aus der Zeit vor 1964 bzw. vor dem 31. März bzw. 1. April 1964, unter ihnen auch der Fall einer Arbeiterführerin, Angelina Gonçalves, die am 1. Mai 1950 in Rio Grande-RS von der Polizei erschossen wurde, als sie bei einer Demonstration ein Plakat mit der Aufschrift trug: „O Petróleo é Nosso!"

Es folgt ein Kapitel über die Periode von 1964 bis zum AI-5 mit 39 Namen. Es folgen jeweils Abschnitte zu den Jahren 1969 - 1971. Waren Schicksale wie das des Professors Pe. Antônio Henrique Pereira Neto, Mitarbeiter D. Hélders, der 1969 bestialisch ermordet worden war, einer breiten Öffentlichkeit bereits bekannt, so kamen nunmehr auch so grausame Geschichten wie die der 17jährigen bahianischen Sekundarschülerin Nilda Carvalho Cunha ans Tageslicht. Sie gehörte zum MR-8. In der Nacht des 19. August 1971 wurde sie verhaftet und zur Base Aérea de Salvador gebracht. Dort wurde sie in unsäglicherweise gefoltert. Als man sie Anfang November entließ, war sie praktisch erblindet und vermochte kaum mehr zu atmen. Sie wurde in ein Krankenhaus eingeliefert und verstarb nach wenigen Tagen. Als die Mutter die Grausamkeiten, die ihre Tochter im Gewahrsam der Sicherheitskräfte hatte erdulden müssen, publik machte, wurde sie von Unbekannten mit einem Elektrokabel umgebracht.

Es folgen weitere Abschnitte jeweils über die Jahre 1972 - 1980, dazwischen ein Kapitel über die Guerrilha do Araguaia, worüber bis dahin nur sehr wenig bekannt gewesen war. Danach figurieren nur noch die beiden Jahre 1982 und 1985.

Manche der Minister und Beamten der Secretaría Especial dos Direitos Humanos da Presidência da República - so auch der Secretário Especial de Direitos Humanos, Paulo de Tarso Vanuchi - hatten einst Verfolgung durch den autoritären Staat erlitten und waren selbst Flüchtlinge. Paulo Vanuchi, welcher der Ação Libertadora Nacional (ALN) angehört hatte, wurde verhaftet und der Folter unterzogen. Wie viele andere von der Repression Verfolgte in Brasilien, Chile und Argentinien - z.B. Lysâneas Maciel (Rio de Janeiro), Paulo Freire (Recife) oder Maria Teresa Piñero (Buenos Aires) - fand er schließlich Zuflucht beim Ökumenischen Rat der Kirchen in Genf. Ihre persönliche Erfahrung hatte diese einstigen Flüchtlinge, wenn sie später in entsprechende Funktionen gelangten, den menschlichen Umgang mit zahlreichen - insbesondere politischen - Flüchtlingen aus Problemländern gelehrt.

Seit Januar 2011 liegt das Prädidentenamt in den Händen einer Frau, Dilma Rousseff, einst selbst Angehörige der Stadtguerrilha und in den 70er Jahren unter dem Militärregime inhaftiert und gefoltert worden, hatte wiederholt betont, dass sie aufgrund ihrer eigenen Biographie Fragen der Menschenrechte oberste Priorität geben wolle. Eine Wahrheitskommission, deren Aufgabe es sein wird, die Verbrechen der Diktatur in gebührender Weise zu untersuchen, ist bereits im Entstehen begriffen. Der Exekutivsekretär der in der Bundesrepublik Deutschland aktiven „Koalition gegen die Straflosigkeit", der Journalist Esteban Cuya, nahm im vergangenen Dezember beratend an einer Tagung in Rio de Janeiro teil, die sich mit Fragen der künftigen brasilianischen Wahr-heitskommission beschäftigte.

So darf weiter gehofft werden, dass das traurige Kapitel des Staatsterrors in Brasilien zur Zeit der Diktatur moralisch, juristisch und gegebenenfalls auch ökonomisch doch noch aufgearbeitet wird. Zwar ist von den unmit-telbar Betroffenen aus jener Zeit mittlerweile wohl kaum mehr einer am Leben, doch es bleiben die Familienangehörigen, vor allem die Söhne und Töchter, denen der Staat damals kaltblütig den Ernährer genommen hat. Daran, dass der Staat hinter der ganzen Barbarei stand, kann es keinen Zweifel geben. „Es muß sein.", hatte General Ernesto Geisel am 16.2.1974 zu der „Sache mit dem Töten" zu Dale Coutinho gesagt. Bei der geforderten juristischen Aufarbeitung wird es heute kaum mehr um die Bestrafung der Schuldigen gehen können, da diese alle das Zeitliche bereits gesegnet haben dürften; es sollte jedoch um die juristischen Konsequenzen gehen, die sich aus einem - auch posthumen - Schuldspruch praktisch ergeben: um eine angemessene Entschädigung für die durch das Verbrechen entstandenen „Kolateralschäden". Es wäre nicht mehr als recht und billig, wenn die Hinterbliebenen der direkten Opfer für den ökonomischen Schaden entschädigt würden, der z. B. durch die Abschlachtung der Viehbestände etc. - offenkundige Repressalien der Armee gegen die in der Region Araguaia ansässigen Kolonisten - verursacht worden ist.

Dienstag, 5. April 2011

Gegen das Vergessen:


„SCHWARZES VIEHZEUG" UND „FARBIGES ELEMENT"

Beobachtungen zum Thema „Menschenrecht, Toleranz und Humanität in Lateinamerika

Eine Reise nach Argentinien, Paraguay und Brasilien führte mir sehr anschaulich die Lage der Eingeborenen, Schwarzen und der Landlosen, der Schwächsten also in der lateinamerikanischen Gesellschaft, im Jahr 2000 - vor Augen. Brasilien beging in jenem Jahr das 500. „Jubiläum" der „Entdeckung" der „Terra da Vera Cruz,"

Auf der Plaza de Mayo von Buenos Aires erinnern in das Pflaster eingelassene Symbole an die vielen Menschen, die während der blutigen Herrschaft der Militärs ums Leben gekommen bzw. `verschwunden´ sind. Jeden Donnerstag versammeln sich die `Mütter der Plaza de Mayo vor dem Regierungspalais zu einem Schweigemarsch. Sie fordern Aufklärung über den Verbleib ihrer Angehörigen und verlangen `Gerechtigkeit´. Dazu gehört auch die Verurteilung der Schuldigen, die noch heute unbehelligt auf ihren Posten sitzen. Der Abgeordnete des Nationalparlaments Torres Molina unterstützt die Angehörigen der Opfer des staatlichen Terrors der 70er Jahre mit großem Engagement. Sein Assessor war einer der Exilierten jener Zeit, der bei uns in der Bundesrepublik Aufnahme gefunden hatte. Im Nürnberger Menschenrechtszentrum pflegen wir die Verbindung zu den Freunden in Argentinien.

Bis zum heutigen Tag sind wir ein kolonisierter und ausgebeuteter Kontinent", sagte einer meiner Kollegen in Rio de Janeiro. Der Leiter der Staatskanzlei von Rio Grande do Sul sprach in einem Interview, um das ich ihn gebeten hatte, von einer erneuten Kolonisierung Brasiliens. Dazu nannte er ein Beispiel: „Die 5 Geldinstitute des Landes, die von den ehemals 40 brasilianischen Banken übrig geblieben sind, befinden sich heute mehrheitlich in spanischer oder portugiesischer Hand", bemerkte er. Alle Leute sagen, Brasilien sei eine Demokratie, in der Menschen unterschiedlicher Rassen ohne Diskriminierung zusammen leben. In den gängigen Statistiken heißt es, die Bevölkerung setze sich aus 53% Weißen, 34% Mischlingen, 11% Schwarzen und 2% Sonstigen zusammen. Die Zahl der Indios wird mit 300.000 angegeben - bei einer heute um die über 200 Millionen zählenden Bevölkerung! Im Eingeborenen-Reservat von Inhacorá sprach ich mit dem Häuptling, João Camargo, der einer Gruppe von 800 Kaingang- „Indios" vorsteht. De facto geben die Bürokraten der Nationalen Indianerstiftung den Ton an. Die Kaingang betreiben Subsistenzwirtschaft auf einem Gebiet, das ca. 2.800 ha umfaßt. Vor einigen Jahren waren es noch 5.000 ha gewesen. 2.200 ha haben in der Zwischenzeit die „brancos´, weiße Anlieger, die dem „schwarzen Viehzeug´, wie sie die Indianer oft verächtlich nannten, von dem Territorium abgezwackt. Seit sie 1993 als Staatsbürger anerkannt wurden, können die Indios ihr Land wieder selbst bebauen; doch in welchem Zustand haben sie es vorgefunden? Jahrzehntelang wurde der Naturwald von skrupellosen weißen Geschäftemachern abgeholzt. Der Boden wurde durch Monokulturen, wie z. B. die für den Export bestimmte Sojabohne, total ausgelaugt. Nur schrittweise kann begonnen werden, auf der Basis der Subsistenzwirtschaft die Grundlage für den eigenen Lebensunterhalt zu schaffen. Es fehlt an allem: an Saatgut und Kleinvieh ebenso wie an landwirtschaftlichen Geräten oder Maschinen. Die Indianerschutzbehörde ist ein bürokratischer Wasserkopf. Kaum jemand dort versteht wirklich, was die Indios benötigen. In Rio Grande do Sul gibt es nur noch 8.787 Kaingang und Guaranis auf einer Grundfläche von 60.330 ha in 17 Reservaten. Für zwei Gemeinden von 336 bzw.24 Eingeborenen muß über die Anerkennung des von ihnen bewohnten Gebietes erst noch durch die Justiz entschieden werden. Wen darf es wundern, wenn sich unter diesen Umständen bei den Indios der Wunsch verbreitet: „Wir wollen in Freiheit leben, wie zu der Zeit ehe der Portugiese nach Brasilien kam!´ Kurz vor dem Besuch bei den Kaingangs hatten, ausgerüstet mit Pfeil und Bogen, Indios in Mato Grosso eine Ortschaft belagert, um zu fordern, `was ihnen gehört´: `Dieses Land ist unser!"

In Asunción lernte ich einen Ingenieur kennen, der eine Indianerstiftung leitet. Sein Vater, Leon Cadogan, Sohn Australischer Einwanderer, hatte sich in der Indianerarbeit in außergewöhnlicher Weise engagiert und verschiedene Guarany-Sprachen studiert. In den 40er und 50er Jahren, als die Eingeborenen noch schutzlos der Sklaverei ausgesetzt waren, hat er mit Erfolg für das Recht der Indios gekämpft. Am Ende hat er eine umfangreiche Bibliothek über die Geschichte und Kultur der Guaraní-Völker Paraguays, samt einer Art von ethnologisch-anthropologischem Museum hinterlassen. Mit einem Indio fuhren wir in das benachbarte Luque, um dort eine posada zu besuchen, ein Grundstück, auf dem die Angehörigen eines Stammes der Guaranis „Unterkunft" finden, bis sie nach Erledigung ihrer Geschäfte in der Hauptstadt wieder in den Chaco zurückkehren können. Wir haben uns freundschaftlich unterhalten und ich erfuhr viel über die Unterdrückung dieser Menschen, deren Vorväter einst die Herren dieses Landes gewesen waren.

Was die Situation der Schwarzen betrifft, deren Vorväter Brasilien als Sklaven unfreiwillig „entdecken´ mußten, widerspiegelt ein bezeichnendes Erlebnis, das ich in Porto Alegre hatte:

Im Regierungspalais wurde ich ins Vorzimmer des Chefs der Staatskanzlei weitergereicht, wo man mich bat, ein Weile Platz zu nehmen; vor mir sei nur noch eine Dame, eine Schwarze, an der Reihe. Als ein Sekretär auf der Bildfläche erschien, wandte sich dieser sofort mir zu, und fragte höflich, ob ich ein Glas Wasser annähme, worauf ein livrierter Diener mir artig cafézinho und Wasser anbot. Meine Nachbarin, neben der ich auf dem obligatorischen Ledersofa saß, hatte Glück, dass auch für sie ein Espresso samt einem Glas Wasser abgefallen war. Ich raunte ihr zu: „Da sehen Sie die democracia racial. Sie sind Brasilianerin, ich bin Ausländer, Sie waren zuerst hier, während ich erst nach Ihnen eintrat, doch ich habe helle Haut, also werde zuerst ich angesprochen. Vielleicht gibt es bis zum Jahr 2088 ein Gesetz, welches eine derartig offensichtliche Diskriminierung wirklich verhindert!" Damit bezog ich mich auf das `berühmte´ Jahr 1888, in dem am 13. Mai durch die Kaiserin die Abolition verkündet worden war. Obwohl seit der Aufhebung der Sklaverei weit über hundert Jahre vergangen sind, werden die Schwarzen in Brasilien noch immer als Bürger zweiter Klasse behandelt. Dabei sind von je zehn Brasilianern vier von dunkler Hautfarbe. De facto werden 60 Millionen Brasilianern bis heute die vollen staatsbürgerlichen Rechte vorenthalten, vor allen Dingen durch rassistische Mechanismen im Bildungswesen, aber auch auf dem Arbeitsmarkt. Eine ganze Reihe befreundeter Schwarzer haben mir bestätigt, dass sie auf Grund ihrer Hautfarbe entweder ohne Arbeit sind oder - auch als Akademiker - schlechter bezahlt werden als Weiße. Sogar im Bereich der Kirche sind gelegentlich Beispiele der Diskriminierung von Schwarzen zu registrieren. So berichteten Freunde aus Nova Iguaçú, einer Stadt im Großraum von Rio de Janeiro, in der überwiegend Schwarze leben, mit Abscheu vom Verhalten eines Priesters, der die bereits festgesetzte Trauung eines schwarz-weißen Paares mit der Ermahnung verhindert habe, die jungen Leute möchten sich die Sache doch noch einmal genau durch den Kopf gehen lassen. zwar verbietet das Gesetz jegliche Diskriminierung aus Gründen der Rasse, und man spricht nicht über die Hautfarbe des andern. Wie die Katze um den heißen Brei herum schleicht, windet man sich, wenn es um die Frage der Rasse geht. Am Ende bezeichnet man den Neger dann vorsichtig als ein `elemento de cor´ - ein farbiges Element! In Rio Grande do Sul und Pernambuco führte ich Gespräche mit Angehörigen der Landlosenbewegung (MST), die entweder ein Latifundium besetzt hatten, wo sie dann über viele Monate oder Jahre in primitiven Behausungen aus Planen hausen mußten, oder sich bereits definitiv einrichten konnten und, in einfachen Häusern lebend, bereits ihrer bäuerlichen Tätigkeit nachgingen. Eine UNO-Statistik belegt, daß Brasilien unter den Ländern der Erde mit der größten Bodenkonzentration in privater Hand an zweiter Stelle steht. Ungefähr 1% der Landeigentümer verfügen über 40% der gesamten landwirtschaftlich nutzbaren Fläche Brasiliens. Dabei handelt es sich um nicht weniger als um 80 Millionen Hektar. Eine Untersuchung aus dem Jahre 1996 macht deutlich, dass in dem riesigen Land 4,9 Millionen bäuerlicher Familien unterhalb der Armutsgrenze vegetieren. 78% der ländlichen Bevölkerung verdienen pro Tag nicht mehr als zwei Reais, ungefähr zwei DM. Wen darf es da wundern, wenn die Miserablen unter solchen Bedingungen gegen das bestehende menschenverachtende System aufbegehren? Nach ersten Landbesetzungen haben landlose Taglöhner 1984 die Bewegung der Landlosen (MST) ins Leben gerufen. Im Laufe der mittlerweile verflossenen 15 Jahre gelang es, im Zuge von 2000 Aktionen der Landbesetzung über 200.000 Familien von Landarbeitern auf 7 Millionen ha bis dato ungenutzten Bodens anzusiedeln. Heute leben auf diesen Flächen 20 - 30mal mehr Familien als dies vor der Okkupation der Fall gewesen ist. Der Weg bis zur offiziellen Anerkennung solcher Okkupationen war nicht nur hart, sondern auch blutig. Die Kirche hat nachgewiesen, daß in den 12 Jahren von 1985 bis 1997 in ländlichen Regionen 1.003 Landarbeiter - Männer, Frauen und Kinder - und Anführer der Bewegung, wie Rechtsanwälte, kirchliche Mitarbeiter und Priester, im Zusammenhang mit Landbesetzungen ermordet worden sind. Weltweiten Protest erregten die der Bundespolizei anzulastenden Massaker von Corumbiara und Carajás. In all den Jahren kam es lediglich in 56 Fällen zu Strafprozessen, und nur 7 Personen wurden verurteilt. Alle übrigen gingen straffrei aus. Nach diesen Beispielen der Missachtung von Menschenrechten namentlich in Argentinien und Brasilien sei zum Schluß aber auch noch ein persönliches Erlebnis, eine Begebenheit von beispielhafter Toleranz, berichtet: Man hatte für den 12. Februar in der katholischen Kirche von Casa Forte, Recife, die Taufe unserer brasilianischen Enkeltochter angesetzt. Als protestantischer Theologe sollte ich bei der Feier mitwirken. In einem Vorgespräch mit Padre Edivaldo, der ein guter Freund des bekannten Erzbischofs von Olinda und Recife, Dom Hélder Câmara gewesen war, erzählte ich ihm die folgende Geschichte, die mir Dom Hélder einmal berichtet hatte: „Eine Studentin aus Rio de Janeiro, die sich auf die Abfassung ihrer Dissertation vorbereitete, kam in unsere Region mit dem Bewußtsein ihrer geistigen Überlegenheit. Man schickte sie in eine entfernte Gegend, wo sie einem Fischer begegnete, der mit einem Korb voller Fische des Weges kam. Sie begann sich mit ihm zu unterhalten und fragte ihn, ob er wisse, wer der Präsident der Republik sei. Er wusste es nicht. Und wer der Gouverneur des Staates Pernambuco sei. Auch das wusste er nicht. Und wie heißt der Bürgermeister diese Ortes? Wiederum blieb er die Antwort schuldig. Die Studentin verhehlte nicht ihr Erstaunen darüber, dass jemand, der in diesem Lande wohnte, die Namen jener Persönlichkeiten nicht kannte, die doch fast aller Welt bekannt waren. Der Fischer nahm seinerseits ganz gelassen einen seiner Fische aus dem Korb, hielt ihn der Fremden vors Gesicht und fragte: „Weiß die Frau Doktor vielleicht den Namen dieses Fisches?" Sie verneinte. Er holte einen anderen hervor: „Und diesen hier?" Sie verneinte wiederum. „Und diesen dritten hier?" Sie mußte erneut passen. Da sagte der Fischer in aller Schlichtheit: „Dann müssen wir unsere Unwissenheit austauschen!" - Nachdem ich diese Geschichte zum Besten gegeben hatte, wurde ich ohne langes Federlesen eingeladen, die gesamte Taufhandlung zu übernehmen. Eine erstaunliche Offenheit! Zur festgesetzten Stunde war ich an Ort und Stelle. Padre Edivaldo stellte mich nach der Messe der Gemeinde vor und kündigte an, daß nun der anwesende Pastor luterano aus Deutschland sein Enkelkind taufen werde. Die Gemeinde klatschte kräftig Beifall. Anstatt, wie am Vortag besprochen, bei der Tauffeier anwesend zu sein, sagte mir der Padre nun, es sei doch nicht sinnvoll, wenn er während der Taufe auch zugegen wäre, ich solle die Amtshandlung in aller Ruhe ganz allein vollziehen und zwar ganz genau so, wie es in meiner Gemeinde üblich sei. So wurde das Kind in einer der schönen katholischen Kirchen von Recife im Stil des Kolonialbarocks nach lutherischem Ritus getauft und danach in das Taufregister der römisch-katholischen Gemeinde von Casa Forte eingetragen. Dass der zuständige Kollege diese Form der Taufe in seiner Kirche gestattete, verriet eine ganz außergewöhnliche Toleranz. Er zeigte ein wahrhaft großes Herz! Eigentlich war es aber der gemeinsame amigo Dom Hélder Câmara, der statu invisibile seinen Segen zu der ungewöhnlichen Amtshandlung gegeben hatte! So wird durch dieses sehr private Beispiel bestätigt, was ein protestantischer Kollege aus Rio mir im Blick auf sein Volk und Land einmal sagte, das allen Unbilden zum Trotz von der Hoffnung auf morgen getragen wird: „Wir sind umgeben von Unwissenheit, Armut und Leiden, und doch sind wir erfüllt von Hoffnung! In unserer Zeit sind es die Armen, die gekreuzigt werden. Der Boden unseres ganzen Kontinents ist von ihrem Schweiß und Blut getränkt, doch eines Tages wird sich erfüllen, worauf wir gehofft haben, und wir werden uns zu einem neuen Leben erheben.´